An der diesjährigen Generalversammlung der StadlerRail AG durfte ein Aktionär nicht fehlen: Willi T., aus Effretikon. Zum Leidwesen der Verwaltungsräte und zur Erheiterung des Publikums erlebt der volle Saal hautnah, was es heisst, wenn ein Aktionär von seinem rechtlich verbrieften Diskussionsrecht schamlos Gebrauch macht. Schon zu zweiten Mal erlebe ich Willi T. aus Effretikon in Aktion und einen zunehmend perplexeren Verwaltungsrat der StadlerRail AG, der sich den Vortrag von Willi T. schutzlos anhören muss. Fast wäre die Feststimmung gekippt und trotzdem: wer hätte von der Causa „Waldenburgerbahn“ ohne Willi T. erfahren?
Willi T., und die Mitwirkungsrechte des Aktionärs
Das Diskussionsrecht des Aktionärs beinhaltet die Befugnis, im Rahmen der Verhandlungs–gegenstände gemäss Traktandenliste, Stellungnahmen (Voten) sowie Abstimmungs- und Wahlparolen abzugeben. Willi T. gehört zur Spezies der Aktionäre mit einem ausgeprägten Hang zur Mitwirkung und Selbstdarstellung, gepaart mit dem festen Glauben, es locker mit einem hochkalibrigen Gegenüber, wie Peter Spuhler es ist aufnehmen zu können. Ohne fehlende Bescheidenheit werden rote Karten verteilt, sei es wegen mangelhaften Projekten, vermeintlich überdotierten Veraltungsräten oder behauptetem und auch empfundenem Filz (zu den einzelnen Voten weiter unten). Willi T. ist ein Schlag Mensch, der den Vortrag vor grossem Publikum sucht, in der SwissLife Arena haben immerhin 12000 Zuschauer Platz. Man kann Willi T. zugutehalten, dass er den sonst statutarischen und deshalb langweiligen Anlass auflockert. Der messianische Eifer, mit dem er seine Voten vorträgt, erstaunt aber allemal. Man gewinnt den Eindruck, dass sein Ziel darin besteht, der Firma StadlerRail ihren Erfolg zu missgönnen.
Beispiel Waldenburgerbahn
Die Aktionäre staunen: es gibt sie doch die roten Projekte der Firma StadlerRail.
Es geht um 10 TramLinks aus Valencia auf einer umgebauten Meterspur mit einem erstmals verkauften Zugsicherungssystem CBTC, das uneingeschränkte Geschwindigkeiten bis zu 80 km/h erlaubt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten war mangels funktionierenden Lichtsignalen nur Fahrt auf Sicht möglich. Lieferverspätungen aufgrund fehlender Zulassungen stellten die geforderte Doppeltraktion in Frage. Der Wintereinbruch stand bevor. Verspätungen und frierende, wartende Passagiere die Folge. Willi T., gebürtiger Waldenburger hat «die Schnauze voll» und zieht die rote Karte.
Ein Blick in die stets sachliche, mitunter auch Stadler-kritische Eisenbahnrevue (EBR 10/22, 12/22, 2/23, 3/23 und 7/23) listet die monierten Ereignisse wie folgt:
- Fahren auf Sicht mangels funktionierendem Sicherungssystem CBTS
- Einweihungsfeier ohne Fahrt in der neuen Bahn
- Fahrgastinformationssystem ausser Betrieb
- Reduzierte Geschwindigkeiten von 40 km/h auf Weichen und Übergängen
- Zwangshalt bei Bahnübergang
- Durcheinandergeratener Fahrplan
- Kein Vertrauen in die neue Bahn bei Fahrgästen
- Schneefall schafft zusätzlichen Ärger (Drehgestelle)
- Vereiste Fahrleitungen, 2. Stromabnehmer als Eiskratzer
- Phantomzüge gemäss Fahrgastinformationssystem
- Enge Platzverhältnisse infolge fehlender Doppeltraktion
Und in der Tat, man ist sich eine derart chaotische Projekteinführung beim Schweizer Vorzeigeunternehmen nicht gewohnt. Willi T. spricht von einem «Desaster in Oberdorf» und fordert endlich funktionierende Züge. Peter Spuhler lässt sich auf den Disput nicht ein und verweist in souveräner Weise auf die mannigfachen Dritt-Ursachen der entstandenen Situation, v.a. auf die Umstellung der Spurbreite, auf die Signalisation, auf das autonome Fahren, den Wintereinbruch etc.
Im Zusammenhang mit zahlreichen Dritt-Ursachen mangelhafter, verspäteter und gescheiterter Bahnprojekte fühlt man sich hier an das Projekt FV-Dosto erinnert, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass das damals federführende Unternehmen Bombardier unabhängig von eigenem Verschulden einem medialen Tribunal ausgesetzt war. Die Causa «Waldenburgerbahn» hingegen war in den überregionalen Medien kaum eine Erwähnung wert, da sie sich nur schlecht mit der zur Routine gewordenen erfolgreichen Medienpräsenz der Firma Stadler vertragen hätte.
Stimmen aus der Region
Der Dramatik der Intervention eines entrüsteten Aktionärs stehen folgende, vermittelnde Stimmen betroffener Fahrgäste gegenüber, die hier zur Aufheiterung wiedergegeben werden (Auswahl aus den 139 Kommentaren von «Neue Stadler-Bahn lässt Hunderte Pendler in eisiger Kälte stehen», 20 Minuten 12.12.2022):
«Und wo bleibt das Waldenburger-Dampfbähnli? Ach ja, fuhr ja im Winter nicht. Schade, dass es nun überhaupt nicht mehr fahren kann» (Romanagabriela)
«Immerhin, der Start mit der neuen Elektrobahn ist voll missglückt. Aber die Testläufe waren bestimmt nicht gut genug. Und es soll sich bald einpendeln, wohl vollautomatisch. Vielleicht sollte diese Bähnli nur im Sommer fahren. Im Winter hat das Bähnli eben kalte Füsse, ähm Räder.» (rbuello20a)
«Viele Leute sind auch nicht mehr fähig, einige Zeit draussen zu verbringen. Es fängt bei den Turnschuhen an, geht über die dünnen Hosen, die Fussgelenke liegen frei, bis hin zu kaum bis zu den Hüften reichenden Jäckchen. So kann man ins Auto steigen, nicht aber mit dem öV unterwegs sein» (Fredi_Loong)
«Das ist typisch «Baselbiet». Anstatt einen mehrwöchigen Testbetrieb mit normalem Fahrplan durchzuführen, weiss man alles besser und meint mit ein paar Testfahrten sei ein solch komplexes Vorhaben pannenfrei durchzuführen» (chamedissie210)
«Hallo SBB, bei Bombardier funktioniert nach jahrelanger Verspätung und Unsummen von Zuschüssen immer noch nichts» (alfonsox)
«Jaja, aber Hauptsache Bombardier ist böse und Stadler ist gut. Die Bombardier Trams in Zürich und Basel funktionieren jedenfalls besser als dieses Stadler Möchtegern» (RoroHobbyrocker)
Vielleicht erwägt Willi T., sich das nächste Mal wirkungsvoller in der Kommentarspalte einschlägiger Medien zu äussern als an der Stadler GV. Dort ist wenigstens nicht mit Buh-Rufen und Trillerpfeifen zu rechnen (Zur Erinnerung: ein entrüsteter Aktionär trat mit einer Trillerpfeife vor das Rednerpult und wollte Willi T. am Sprechen hindern. Dies war der Moment, wo die Stimmung an dieser GV zu kippen drohte und der Anlass aus dem Ruder lief).
Filz im Veraltungsrat
Doris Leuthard, die ehemalige Bundesrätin sitzt im Verwaltungsrat der StadlerRail AG. Willi T. macht keinen Hehl daraus, dass er kein Fan dieser ehemaligen Magistratin ist, die dem für alle Rollmaterialanbieter wichtigen Verkehrsdepartement UVEK lange Jahre vorstand. Man kann diesen Umstand toll finden oder nicht, ein allfälliger Filz wirkt sich bei Beschaffungen nur aus, wenn mehrere Anbieter überhaupt im Rennen sind. Dies ist je länger, je weniger der Fall. Schon bei der nächsten grossen Ausschreibung SBB/Zürcher S-Bahn wird sich weisen, ob die SBB überhaupt von ihrem Hauslieferant abrücken will bzw. kann. Bei diesem Entscheid dürfte neben der benannten Verwaltungsrätin ein gewisser Thomas Ahlburg, ehemaliger CEO von StadlerRail, heute SBB-Veraltungsrat weit mehr ins Gewicht fallen. Interessant ist, dass Willi T. von einer Politikerin vom Schlage einer Ursula Koch/SP, ehemals Stadträtin von Zürich ganz andere Impulse erwarten würde. An Streitbarkeit würde sie ihn kaum übertreffen.
Fazit
Einmal mehr ein interessanter, medial perfekt inszenierter Anlass in einer Arena, die ich sonst als bekennender HC Lugano Fan nur selten betrete. Max Enderli, Hagenwil kontert gegen den aufmüpfigen Willi T. und zeigt ihm ebenfalls die rote Karte, mit der dreist versucht wurde, das glänzende Image des Vorzeigeunternehmens Stadler anzukratzen. Trotz reduziertem EBIT von 5,5 auf 5,1%, mitunter auch wegen vermeintlicher «Sippenhaft» nach bekannt gewordener Gewinnwarnung von Alstom von 40% dürfen wir auf unser nationales Rollmaterialunternehmen stolz sein. Wie gut die Aussichten wirklich sind, werden wir in den nächsten Jahren erfahren.
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch