Verzug – selbst- oder drittverschuldet?
Die Analyse der Ursachen eines Verzuges ist im Langzeitprojekt notwendigerweise schwierig.Der Unternehmer muss für jedes Fehlverhalten seiner Subunternehmer und Lieferanten einstehen. Insofern herrschen klare Verhältnisse. Problematisch wird die Analyse erst, wenn Dritte oder der Bahnkunde selbst den Verzug zu vertreten haben, ganz oder teilweise. Dann entstehen schwierige Abgrenzungsfragen: Hat der Lieferant das Problem rechtzeitig entdeckt und abgemahnt, wie gross ist der Zeitaufschub, den er bei Drittverschulden anrechnen darf? Was, wenn sich die Parteien nicht einigen können?
Termintreue – ein schwieriges Versprechen
Der Bahnkunde hat Anspruch auf eine termingerechte Erfüllung des Vertrages, insbesondere bei einer Leistung, die als „mission critical“ bezeichnet werden muss. In der Ausschreibung FV-Dosto (Simap 74/20.04.2009) nahm innerhalb des Zuschlagskriteriums „Gesamtwirtschaftlichkeit und Termineinhaltung“ die „strikte Termineinhaltung“ mit 30% des Hauptkriteriums, d.h. mit 9% sämtlicher Zuschlagskriterien ein prominentes Gewicht ein. Übernahme- und Abnahmetermine für 59 Einheiten ergaben dabei bereits 118 verzugsbegründende Termine, ohne Berücksichtigung weiterer zugesicherter 24 Projektereignisse im Umfeld Review, Konzepte, Entwicklung, Bau und Versuche. Insgesamt musste ein Anbieter somit bei Offertabgabe 142 Termine garantieren. Man muss sich fragen, ob in einem komplexen Langzeitprojekt entsprechende Zusagen objektiv überhaupt möglich sind, oder ob sich ein Anbieter einfach gottergeben auf einen Blindflug begibt, will er an der Ausschreibung teilnehmen.
Im Fall FV-Dosto sah die zugesicherte Termintreue keinesfalls Kaskaden vor: auf den Umstand, dass Lieferverzögerungen bei einem Fahrzeug bzw. bei einem Projektereignis Folgeverzögerungen auslösen können, wurde nicht Rücksicht genommen. Die Zusicherung der Termintreue musste unter diesen Umständen auf ein komplexes Modell mit Redundanzen und Zeitreserven zurückgreifen, um im internen Rewiewprozess der Lieferantin einigermassen plausibel zu erscheinen.
Erschwerend wirkte sich weiter aus, dass die oft komplexe Terminplanung von zahlreichen Drittereignissen abhängig war, die ausserhalb der Planungshoheit der Lieferantin lagen. So figurierte unter den garantierten Projektterminen z.B. die „gemeinsame Review und Verfeinerung des Projektanforderungskataloges (PAK)“, geschuldet spätestens 2 Monate nach Vertragsabschluss und pönalisiert mit CHF 35‘000.- pro Monat. Dass diese Vorgabe als reines Druckmittel zwecks rascher Inkraftsetzung eines höchst „änderungsanfälligen“ Anforderungskataloges verstanden werden muss liegt auf der Hand.
Mit einem Wort: die Zusicherung von Terminen erscheint aus der Sicht der Beschaffungsstelle logisch und legitim, aus der Sicht der Lieferantin in komplexen Langzeitprojekten als höchst spekulativ. Der Lieferant sichert notgedrungen Termine zu, die er kaum halten kann. Diese eigentlich wertlose Zusicherung wird entsprechend gewichtet, kann aber in keiner Weise überprüft werden. Zeigt sich im Projekt, dass Termine utopisch waren, ändert dies wenig an entsprechenden Verzugsfolgen.
Verzugsanalyse FV-Dosto
Eine Recherche in der schweizerischen Eisenbahnrevue, Ausgaben 2010-2020 gibt Hinweise über mögliche Ursachen der entstandenen Verzögerung. Der Werkliefervertrag sah ursprünglich eine Lieferung erster Kompositionen Ende 2013 vor (SER 6/2012, S. 288). Verzögerungen von insgesamt 4, 8 bzw. 12, also von 24 Monaten sind der Maquettenphase, der ersten Beschwerde der Behindertenverbände und den gesteigerten Anforderungen der SBB an die Wechseldruckfestigkeit der Züge geschuldet. Vor Ende 2015 konnte somit nicht Lieferungen gerechnet werden. Interessant auch, dass internationale Normen betr. Wechseldruckfestigkeit, nicht aber die weiter gehenden Anforderungen der SBB vom Zug erfüllt wurden. Bei über 1000 Änderungsvorschlägen von über 200 Interessentengruppen, die während der Maquettenphase den Zug im 1:1-Modell besichtigen konnten, ist zudem zwangsläufig mit hohem Änderungspotenzial zu rechnen, dem knappe Ressourcen und auch oft komplizierte Verhandlungen um Zeit und Geld zum Opfer werden. Der „Wunschkatalog an das Christkind“ (SER 5/2010, S. 227) dürfte dadurch nicht kleiner geworden sein.
Als dann am 30.11.2017 endlich eine befristete Betriebsbewilligung des BAV für den FV-Dosto vorlag konnten die notwendigen Testfahrten durchgeführt werden. Dass bei einem Zug dieser Komplexität, der mit einem neuartigen Wankkompensationssystem ausgerüstet wurde, dessen technische Realisierbarkeit nur auf dem Papier bestand ist Störungen vorprogrammiert sind ist nicht ungewöhnlich. Die Beschaffung neuer Technologien, die erst im Modell existieren rächt sich auf diese Weise unvermeidlich. Die letzten Berichte über die Fortschritte bei der Verbesserung der Zuverlässigkeit des FV-Dosto zeigen einen deutlichen Trend nach oben (SER, 3/2022, S. 128, SER 4/2022, S. 194). Dass der FV-Dosto trotz seiner turbulenten Projektgeschichte Ende 2021 sogar als „pünktlichster Zug“ in Österreich, Deutschland und der Schweiz bezeichnet wurde, wagt man kaum zu glauben (Eisenbahn in D, A und CH, 12/21).
Fazit
Wie kann man sich bei Lieferterminen um Jahre täuschen? Wie stark müssen Plan und Wirklichkeit eines Projektgeschehens voneinander abweichen, um einen derartigen Verzug hervorzubringen. Wie einfach ist es qua Vergaberecht unrealistische Terminforderungen zu stellen, um sich danach am säumigen Lieferanten zu bereichern?
Die Geschichte dieses Projektes wurde nie seriös aufgearbeitet. Der Lieferant hat Anforderungen eines Projektes unterschrieben, nicht weil er wollte, sondern weil er musste. Die Mechanik des öffentlichen Beschaffungswesens mit einem einseitigen Diktat von Anforderungen, wenig bis keinen Spielraum für Verhandlungen, einen enormen Zeitdruck bei immer komplizierteren Beschaffungen und ausufernden Projektstörungen durch eine Vielzahl von Stakeholdern in drei Ländern scheint im Fall FV-Dosto an ihre Grenzen gestossen zu sein.
Von den 142 im Werkliefervertrag garantierten Termine ist kein einziger eingehalten worden. Die zu zahlreichen Änderungen des Anforderungskataloges haben gezeigt, dass ein „Design Freeze“, obschon vertraglich zwei Monate nach Vertragsschluss gefordert, bei einer Rundum-Einflussnahme von Dritten, Zulassungsbehörden im In- und Ausland, Behindertenverbänden, Interessengruppen und nicht zuletzt die Öffentlichkeit selbst eine Illusion ist.
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch