Braucht unser Tramverkehr im immer dichteren Getümmel der Metropole einen löwenhaften Scharfblick? Die VBZ wurde unlängst von einer schrecklichen Unfallserie heimgesucht. In nur einer Woche ereigneten sich 4 Unfälle, 3 davon mit tödlichem Ausgang. Involviert in einen der tödlichen Unfälle war auch ein neues Flexity 2 Tram der Bombardier Transportation (heute Alstom). Aus bisher ungeklärten Gründen geriet eine Frau zwischen Perron und Tram. Die Stadtpolizei sucht Zeugen. Im Unterschied zum zweiten schrecklichen Unfall der tragischen Woche, der sich am Hauptbahnhof ereignet hat und wo ein Mann offenbar aus eigenem Verschulden eine Abkürzung über die Kupplung eines Tram2000 wählte, um zum gegenüberliegenden Perron zu gelangen, wäre dieser Unfallhergang bei einem Flexity 2 ausgeschlossen gewesen, weil bei diesem Tramtyp besteigbare Kupplungen fehlen. Und trotzdem: wie sicher ist dieses Tram der neuesten Generation? Wieso können tote Winkel nicht vollständig ausgeleuchtet werden? Braucht es ODAS 2.0?
Was ist ODAS?
ODAS (Obstacle Detection Assistance System) ist ein modulares Frühwarnsystem, das den Fahrer auch in äusserst unübersichtlichen Situationen unterstützt, dabei Gefahren und Hindernisse erkennt (auch nicht metallische) und ein Warnsignal absetzt, damit der Fahrer umgehend die Bremsung einleiten kann. ODAS besteht aus drei Kameras, die den Frontbereich in Fahrtrichtung scannen und bei Gefahr Warnungen absetzen. ODAS löst zwei Warnsignale aus, zunächst, nachdem das Kollisionsrisiko entdeckt worden ist, ein visuell-akustisches, danach, wenn das Kollisionsrisiko steigt, ein entsprechend lauteres Signal und schliesslich eine moderate automatische Bremsung. ODAS ist mit über 900 Systemen bei 10 Tramkunden im Einsatz. [1]
Der hier beschriebene Unfall scheint auf den ersten Blick kaum mit ODAS zusammenzuhängen, ist das Unfallopfer doch seitlich vom Fahrzeug erfasst worden. Der Fahrer konnte die Kollision, wenn überhaupt nur über seine Rückspiegel erfassen.
Eine Rückfrage bei Alstom ergibt allerdings, dass ODAS nur ab 3.6 km/h und ein paar Meter vor dem Fahrzeug eine Wirkung entfaltet. Wenn jemand bei tiefen Geschwindigkeiten seitlich in das Fahrzeug prallt, ist dies nicht verhinderbar. Auch kann die physikalische Gegebenheit nicht geändert werden. Das Tram kann weder ausweichen noch plötzlich zum Stillstand gebracht werden. Was eventuell geholfen hätte wäre das Airbagsystem unter dem Fahrzeug.
Unfallhypothesen
Noch sind die genauen Umstände des Unfalls nicht geklärt, wir können deshalb nur spekulieren.
Bis dato wissen wir nur, dass das Opfer zwischen Perron und Fahrzeug geraten ist, dabei offenbar vom Fahrer nicht entdeckt worden ist. Der Bahnhof Oerlikon Ost befindet sich an einer, mit sehr hohen Randsteinen versehenen Haltestelle des Trams der Linie 14. Eine Hypothese zum Unfallhergang könnte darin bestehen, dass das Unfallopfer beim Überqueren der Geleise und beim Zustieg auf das Perron Mühe hatte, was wiederum bedeuten würde, dass es von vorne erfasst worden wäre, was dem Unfallhergang widerspricht. Eine andere Hypothese würde bedeuten, dass das Opfer seitlich vom Tram erfasst worden ist, sei es aus Unachtsamkeit durch einen zu geringen Abstand zum Fahrzeug, sei es, weil es zu spät ins Fahrzeug einsteigen wollte. Noch sind keine weiteren Informationen verfügbar, die die eine oder andere Hypothese stützen würden.
Hätte der Unfall in Oerlikon mit ODAS 2.0 verhindert werden können?
Wenn man Unfällen überhaupt etwas Positives abgewinnen will, dann den Umstand, dass sie zur Verbesserung der Prävention beitragen und künftige gleiche Unfälle eventuell verhindern können. Man muss sich deshalb fragen, ob ODAS in einer Version 2.0 entsprechend entwickelt werden sollte, damit der Tramkondukteur nicht nur im primären Frontbereich unfallpräventiven Support erhielte, sondern auch lateral an beiden Seiten des Fahrzeuges. Und dies v.a., wenn sich der Unfall beim Anfahren ereignet, wo noch keine langen Bremswege regieren. Es wäre kaum ein substanzieller Kostenfaktor, nicht nur vorne, sondern auch hinten und an allen Türen Kameras einzurichten, die dem Kondukteur jederzeit in Echtzeit melden, was rund um sein Fahrzeug passiert. Der gute alte Rückspiegel hat ausgedient, ist man geneigt zu sagen. Nimmt man in Kauf überall und immer auf irgendeiner Webcam zu erscheinen, ohne dass man davon wirklich Notiz nimmt, wäre eine Rundum- Erfassung des Passagierverhaltens in einem modernen Tram durchaus vertretbar. Der Datenschutz müsste hier hinter die Sicherheit zurücktreten, und die Normadressaten hätten sicher nichts dagegen.
Fazit
In unserer verkehrsdichten, metropolitanen Welt, durchsetzt von einem immer intoleranteren Zwei- und Vierradverkehr, belebt von hektischen Menschen, die mehr an ihre pausenlose Online-Präsenz denken als an ihre Sicherheit haben die Trams einen schweren Stand. Eine Zunahme der Verkehrsunfälle und Kollisionen v.a. auch mit Fahrrädern ist vorprogrammiert und kaum zu vermeiden. Gegen menschliche Unvernunft wird allerdings jede Prävention auf der Strecke bleiben.
Auf das Thema kommen wir nach Vorliegen des Untersuchungsberichtes der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat zurück.
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch
[1] VBZ, Data Sheet Flexity 2, Alstom, ODAS Product Sheet 2023