Unkalkulierbare Vertragsrisiken, harte Vertragsstrafen
Bei einer strategischen Flottenbeschaffung steht viel auf dem Spiel. Die Fahrzeuge müssen am vereinbarten Liefer- und Abnahmetermin in der geforderten Qualität abgeliefert werden, die Fahrzeuge müssen im Betrieb minimale Verfügbarkeitskriterien erfüllen, sie dürfen das zugesicherte Gewicht und den garantierten Energieverbrauch nicht überschreiten und schliesslich müssen sie Instandhaltungs- und Reinigungskriterien erfüllen. Dieses Bündel von Anforderungen beinhaltet Risiken, die die Lieferantin tragen muss, weil sie für den Bahnkunden und seine Passagiere „mission critical“ sind, d.h. ein enormes Schädigungspotenzial beinhalten.
Vertragsstrafen sind somit probate Instrumente des Risikoallokation. Zahlreiche Anforderungen beinhalten allerdings unkalkulierbare Risiken, entsprechend kann die Lieferantin über angemessene Rückstellungen nur spekulieren. Mit einem zu hohen Angebotspreis infolge zu konservativer Rückstellungen würde sie sich zudem selbst aus dem Rennen nehmen. Also lautet die Konsequenz: Risiken eingehen, Vertragsstrafen akzeptieren und im Störungsfall verhandeln.
Die Frage ist berechtigt, ob diese Konsequenz vergabe- und wettbewerbsrechtlich zulässig bzw. erwünscht ist.
Pönalen als Entgelt für unkalkulierbare Risiken
Der Unternehmer muss bereit sein, Risiken einzugehen. Der ordentliche Kaufmann kennt seine Risiken und sorgt vor. So kann er grundsätzlich durch Redundanzen Störungen in seiner Lieferkette ausweichen, er kann bestimmte Risiken versichern oder Risiken durch Zuschläge in seiner Kalkulation abfedern. In der Praxis werden die technischen und rechtlichen Anforderungen mit Hilfe von Checklisten durchkämmt und bewertet, ähnlich wie ein Pilot das tut, wenn er im Cockpit die Vorbereitungen für den bevorstehenden Flug trifft. Damit verspricht sich der Anbieter eine optimale Vorbereitung auf das Projekt. Im Gegensatz zum Piloten im Cockpit muss der Anbieter von komplexen Rollmaterialprojekten allerdings mit unbekannten Risiken umgehen, die oft nur unzureichend abgeschwächt werden können. Er steht somit vor der Wahl, das Risiko auf gut Glück einzugehen oder auf ein Angebot zu verzichten.
Risikokatalog im Langzeitprojekt
Worin bestehen nun die Risiken im Bahn-Langzeitprojekt? Wie unterscheiden sie sich vom Langzeitprojekt in anderen Branchen, z.B. im Hochbau? In strategischen Bahnprojekten – hier macht das Projekt FV-Dosto keine Ausnahme – muss sich der Anbieter mindestens mit folgenden Risikokategorien auseinandersetzen:
- Risiko, Liefer- und Abnahmetermine (Zwischen- und Endtermine) nicht einhalten zu können
- Risiko, dass zugesicherte bzw. geforderte Eigenschaften des Arbeitsresultates nicht eingehalten werden
- Risiko, dass Sublieferanten bzw. -unternehmer ausfallen oder ihre Verpflichtungen nicht einhalten
- Risiko, dass das Gewicht oder der Energieverbrauch der Fahrzeuge die zugesicherten Werte überschreitet
- Risiko, dass die zugesicherte Verfügbarkeit des Fahrzeuges (RAMS/LCC, d.h. Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit, Instandhaltung und Sicherheit, zugesicherte Lebensdauer von Baugruppen) nicht eingehalten wird
- Risiko einer Verletzung von Geschäftsgeheimnissen
- Technische Spezialgarantien, wie z.B. die Entwicklung neuartiger Drehgestelle, die bogenschnelles Fahren ermöglichen.
Man erkennt sofort, dass das fett hervorgehebene Spezifikationsrisiko im Zentrum der Risikobeurteilung steht. Von der Qualität des Anforderungskataloges hängt der Erfolg des Projektes ab. Oder anders formuliert: je präziser, je realistischer die Anforderungen, umso geringer die Risiken. Ein Prototyp einer neuen Technologie ist allen Plänen, Zeichnungen und Modellen vorzuziehen.
Im Hochbau sind Anbieter gleichen oder gleichartigen Risiken ausgesetzt mit dem wichtigen Unterschied, dass sie normalerweise den Anforderungskatalog formulieren und regelmässig auf Prototypen zurückgreifen können. Der Bauherr, der das komplexe Hochhaus in Auftrag gibt, beschränkt sich auf seine schlichte Rolle als „Besteller“, der dem Unternehmer bei der Realisierung des einmal spezifizierten Arbeitsresultates seine Kompetenz belässt. Anders im Bahnvergaberecht, wo imposante Anforderungskataloge aus den Amtsstuben der Bahnbetreiber in kürzester Zeit von den Lieferanten verstanden, bewertet oder akzeptiert werden müssen. Dieses Vorgehen ist einmalig und prägt das atypische werkvertragliche Verhältnis zwischen Lieferanten und Bahnkunde.
Risiko Verzug
Dieses Risiko zu managen heisst, über Ressourcen, Ersatzressourcen, klare Instruktionen und Anweisungen zu verfügen, um auf dieser Basis ein realistisches Zeitbudget abschätzen zu können.
Im Fall einer Flottenbeschaffung vom Typ FV-Dosto, an der mindestens 23 strategische Subunternehmer teilhaben bedeutet das zudem, dass die Anforderungen und alle Konsequenzen im Falle einer Nicht-Erfüllung von Anforderungen im Massstab 1:1 auf die Subunternehmer übertragen werden können, ansonsten das Risiko am Generalunternehmer hängen bleibt.
Ein Blick auf die Auswahl der im Fall FV-Dosto von der SBB „in Frage kommenden Unterlieferanten“, zeigt, dass es sich um Systemspezialisten handelt, an denen der Anbieter nicht vorbeikommt. So figurierte z.B. die Firma Knorr-Bremse System für Schienenfahrzeuge GmbH als gesetzter Subunternehmer für die Komponenten Türsystem, Schiebetritt, Bremsausrüstung/Magnetschienenbremse, Bremsscheiben, Gleitschutz, Türdrücker innen/aussen. Vergleichbares galt für die Firma Faiveley Transport, die neben dem kompletten Türsystem, dem Schiebetritt, der Bremsausrüstung, dem Bremsbelag, den Bremsscheiben, dem Gleitschutz auch noch für die Klimaanlagen, Klimageräte, die Komfortanlage, die Heizungs- und Lüftungsgeräte sowie die Türdrücker innen und aussen zuständig ist. Dass sich Subunternehmer mit einem derart breiten Angebot in keiner Weise mit den gleichen Verzugskonsequenzen in das Projekt einbinden lassen, wie der Generalunternehmer liegt auf der Hand. Dieser hat schon gar nicht Wahl, hätte er sie stünde die vertragliche Wahlrestriktion dem Drittlieferanten im Wege.
Im Vertragsverhältnis Lieferantin (Generalunternehmer)- Subunternehmer herrschen somit ganz andere Machtverhältnisse als im Verhältnis SBB – Lieferantin. Der Subunternehmer weiss, dass er zum Zuge kommen muss, das Verzugskonzept des Haupt-Werkliefervertrages kann somit nicht überwälzt werden. Auch führt die Wahl eines der beiden Lieferanten für Bremssysteme dazu, dass sämtliche Bremskomponenten aus haftungsrechtlichen Gründen bei der Wahl des einen oder anderen Lieferanten aus einer Quelle beschafft werden müssen, also keinerlei Wettbewerb möglich ist. Bei dieser Ausgangslage ist es illusorisch, dem Subunternehmer die harten Pönalen „back-to-back“ weiterzugeben, die der Hauptvertrag vorsieht.
Hinzu kommt zudem, dass das Vertragsverhältnis Lieferantin – Subunternehmer durch zahlreiche frühere oder laufende andere Projekte im In- und Ausland historisch geprägt ist. Dieser Umstand kann zu erheblichen Belastungen führen, wenn das Verhältnis in einem Projekt durch vertragliche Auseinandersetzungen im anderen Projekt beeinträchtigt wird. Dass sich die Vertragspartner somit in einem internationalen, repetitiven z.T. durch schlechte Vertragserfüllung getrübten Verhältnis immer wieder gegenüberstehen, erleichtert einen angemessenen Risikotransfer auch nicht.
OR 101 – ein unkalkulierbares Risiko
Die Regelung in OR 101 fehlt in keinem Flotten-Beschaffungsvertrag: sie besagt, dass die von der Lieferantin beigezogenen (bzw. von der SBB vorgeschriebenen, d.h. „in Frage kommenden“ Subunternehmer) als Hilfspersonen im Sinne von Art. 101 OR gelten. Dies bedeutet, dass die Lieferantin kausal, d.h. ohne eigenes Verschulden haftet bzw. dass das Verhalten der „Hilfsperson“ wie ihr eigenes Verhalten qualifiziert wird. Bedenkt man nun, dass im Werkliefervertrag insgesamt 126 Liefertermine (je 62 Übergabe- und Abnahmetermine) und insgesamt 24 Zwischentermine (Milestones) monatlich pönalisiert werden, die direkt oder indirekt von der zeitgerechten Vertragserfüllung eines Subunternehmers abhängig sein können erweist sich die Aufgabe, das Verzugsrisiko angemessen auf den Subunternehmer zu überwälzen als illusorisch. Dieser wird sich zwar an Liefertermine halten, eine weitergehende Haftung wird er schon aufgrund seiner exklusiven Marktstellung verweigern.
Fazit: von den eingangs genannten Risikoarten erweist sich das Spezifikationsrisiko als besonders problematisch. Addiert man dieses Risiko zum vordergründigen Verzugsrisiko, das sich im Fall FV-Dosto in insgesamt 150 zugesicherten und mit Vertragsstrafen belegten Terminpönalen niederschlägt, die nur sehr rudimentär auf „gesetzte“ Subunternehmer überwälzt werden können kann man ermessen, in welchem komplexen Spannungsfeld das Rollmaterial-Risikomanagement stattfinden muss.
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch