Der Teilnehmer der diesjährigen Generalversammlung der Stadler Rail AG in den Olma Hallen von St. Gallen wurde Zeuge einer eindrücklichen ersten Präsenzveranstaltung.
Hunderte von Zuschlägen aus aller Welt, verteilt auf zwei riesigen Screens, einer gewinnträchtigen Lottokarte gleich, begrüssen die zahlreichen Aktionäre und Teilnehmer dieser GV. Man gewinnt den Eindruck, dass ein wichtiges Ziel der Gastgeber, die Stadler Rail Aktie als Volksaktie aufzuziehen erreicht worden ist. Man wähnt sich an einem Volksfest, das mit modernster Technik inszeniert wird. Am Eingang erhält der Aktionär ein Handy-artiges Instrument, mit dem die Traktanden zügig abgehandelt werden können. Das erste Mal erlebe ich diese modernste Abstimmungstechnik, welch ein Segen im Vergleich zur zeitraubenden Urnenabstimmung.
Im Zentrum steht Peter Spuhler, Verwaltungsratspräsident und CEO (bis 2022) der Stadler Rail AG, der mit Geschick, Humor und einer für hiesige Verhältnisse einmaligen Ausstrahlung die GV leitet.
Diesem Mann muss man zuhören. Seine Aussagen sind authentisch und glaubwürdig. Man staunt, wie er diesen Anlass in freier Rede bewältigt, ohne auch nur einmal den Faden zu verlieren. Man spürt, der Saal ist auf seiner Seite und die mehrheitlich ostschweizerischen Aktionäre der Stadler Rail AG sind stolz auf ihren Peter Spuhler.
Im Jahresbericht ist von einem toxischen Cocktail von Widrigkeiten die Rede, sich gegenseitig verstärkend und deshalb unberechenbar: Covid, Inflation, unterbrochene Lieferketten, Krieg und Sanktionen waren schlecht fürs Geschäft. Man nimmt dem Patron Spuhler ab, dass ihn nicht nur die finanziellen Ergebnisse seiner Firma interessieren (z.B. 22 Mia CHF Auftragsbestand, 2500 verkaufte FLIRT Züge in 37 Ländern), sondern auch das Schicksal seiner in Weissrussland von Sanktionen betroffenen Mitarbeiter. Ein Chef mit Herz und Versand, so kommt er rüber.
Wie oft an Generalversammlungen sorgen Aktionäre, die sich ans Rednerpult wagen für besondere Showeinlagen. So auch dieses Mal mit einem äusserst hartnäckigen Redner, der sich wagte, am Monument Stadler Kritik zu üben. Zunächst ging es um die schlechten Gewinnzahlen, die eine offenbar unfähige Kalkulationsabteilung verschuldet hat, dann um vermeintlich ethisch fragwürdige Verstrickungen im Verwaltungsrat der Firma z.B. mit einer „ex-Landesmutter jener Partei, die ein grosses C im Parteinamen trug“ und schliesslich um die fehlenden Damen in der 10-köpfigen Stadler Geschäftsleitung. Jedesmal parierte Peter Spuhler die Anwürfe gekonnt und souverän. Als der streitbare Redner das Wort erneut ergreifen wollte, packten ihn zwei Securitas und schleppten ihn vom Mikrophon weg. Im Speisewagen auf der Rückfahrt wurde das ahnungslose Publikum Zeuge dieses Vorfalls, der aktienrechtlich durchaus relevant wäre, ginge es um echte Anträge eines Aktionärs und nicht um eine blamable Selbstinszenierung.
Die wichtigsten Fragen dieser Generalversammlung blieben allerdings unbeantwortet: Wie kann die Konkurrenz auf diese Machtdemonstration reagieren? Wer ausser Stadler wird an der nächsten grossen Flottenbeschaffung (ZVV/S-Bahn ZH) überhaupt teilnehmen? Mit welchen Risiken wird das Bahnland Schweiz konfrontiert, wenn mit der Stadler-Einheitsbahn jeder Wettbewerb im Keime erstickt wird? Und weiter: muss das Vergaberecht im Bahnsektor auf Eis gelegt werden?
Eine Antwort auf diese interessanten Fragen ist kommenden Generalversammlungen vorbehalten (die nächste findet am 22.5.2024 statt).
Zum Stadler Geschäftsbericht 2022.