Hochmoderner Tunnel trifft auf Bremsen, die aus der Zeit der Postkutsche stammen?
Die Abklärungen der SUST (Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle) sind noch am Laufen, man darf gespannt sein. Nicht nur im Hinblick auf die Haftungsfragen im Zusammenhang mit einem Schaden von über 130 Millionen CHF (inkl. Folgekosten), sondern auch im Hinblick auf die sich aufdrängende Prävention, die angezeigt ist, um künftige ähnliche Unfälle zu vermeiden. Tatsächlich sind die Ansatzpunkte einer Haftung vielfältig: ist es das auftraggebende oder auftragnehmende Transportunternehmen (DB-Cargo bzw. SBB-Cargo), der Eigentümer des Güterwagens, ausgestattet mit einem lärmarmen LL-Bremssystem («low noise, low friction»), das den Radbruch ausgelöst hat (Transwaggon, Schweden), der Wagenhalter und Eigentümer der Lokomotiven und damit die systemrelevante Empfängerin von Signalen (DB-Cargo), die SBB AG, Infrastruktur, als Werkeigentümerin des Gotthardtunnels, das BAV als das für Sicherheitsfragen zuständige Kontrollorgan, der Zugführer, der im Führerstand sass, sein Arbeitgeber (SBB Cargo)? Unabhängig vom Ausgang dieser Debatte hängt das Damoklesschwert unzähliger Güterwaggons aus dem Ausland, die mit Bremsen aus der Zeit der Kutschen ausgerüstet sind drohend über dem Gotthardtunnel. Soll man vereinzelt Güterwagen aus allen Teilen Europas, die mit entsprechenden Bremssystemen ohne «lärmarme» Sohlen gänzlich von der Durchquerung des Gotthards ausschliessen oder sind es nicht vielmehr diese neuen, vorgeschriebenen, lärmarmen Bremssysteme, wie das hier relevante LL-Bremssystem, die problematisch sind?
Die Fakten
Der Gotthard-Basistunnel (GBT) ist für 240 Güterzüge pro Tag ausgelegt, die mit max. 160km/h den Tunnel durchqueren. Er erfüllt als Werk höchste Sicherheitsansprüche, insbesondere durch zwei voneinander getrennte Einspurröhren, was z.B. in seiner nördlichen Verlängerung, dem Hauenstein Tunnel von Olten nach Sissach nicht der Fall ist. Nach wie vor herrscht Konsens darüber, dass mit dem Bau der NEAT, der nordostschweizerischen Alpentransversale eine wichtige Voraussetzung zur Umlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene erfolgt ist. Kostensteigerungen in einem rezessiven Umfeld führen allerdings dazu, dass der kombinierte Verkehr Schiene – Strasse am Gotthard rückläufig ist, wie HUPAC vor kurzem in seiner Stellungnahme zur Teilrevision der NZV-BAV vermeldet hat .[1] Im Ergebnis steht der GBT somit nicht nur sicherheitstechnisch, sondern auch ökonomisch unter Druck.
Da die bestehenden Sicherheitskontrolleinrichtungen ZKE (Zugkontrolleinrichtungen), die auf beiden Seiten des GBT installiert sind, wohl die heissgelaufenen Räder, nicht aber die Gefahr von Spannungsrissen im Rad detektieren können, stehen die Betreiber des GBT vor einem fast unlösbaren Problem. Wie sollen künftige ähnliche Unfälle verhindert werden, ohne Verlagerungsziele zu gefährden? Was kostet eine «narrensichere» Vorbeugung ähnlicher Radbrüche und kann sich die vereinigte Gütertransportindustrie diese Kosten in Zeiten rückläufiger Konjunktur überhaupt leisten?
Haftungsszenarien
Haftungsfragen sind in der juristischen Theorie einfach abzuhandeln, in der Praxis eines Schadens, wie er hier vorliegt aber grenzenlos komplex. Es erstaunt deshalb, dass die Frage nach der Haftung, wie es scheint vorfrageweise schon entschieden wäre. So haftet laut SBB-Chef Vincent Ducrot das Unternehmen, das den Lokführer stellt, also SBB-Cargo (NZZ, 3.11.2013, bestätigt vom ehemaligen Direktor BAV, Peter Füglistaller im Blick 27.8.23). Die Frage, ob die SBB auf den mutmasslichen Verursacher (Transwaggon Schweden) Rückgriff nehmen werden lässt Ducrot bis zum Vorliegen des abschliessenden Berichtes der SUST offen. Wieweit sich der Auftraggeber (DB-Cargo) als ECM (Entity in Charge of Maintenance) von einer Haftung für den Verursacher befreien könnte steht ebenfalls noch in den Sternen. Eine Haftung des Lokführers (bzw. seines Arbeitgebers, wiederum die SBB-Cargo) wegen Unsorgfalt – man könnte ihm vorwerfen, den Radbruch zu spät bemerkt zu haben – scheidet dagegen weitgehend aus. [2]
Die juristischen Konzepte des Haftungsrechtes sind zunächst sehr einleuchtend, wenn nicht trivial: es braucht einen Schaden (hier geschätzt mindestens auf 130 MCHF), eine Widerrechtlichkeit (eine Vermögensverminderung, hier Sachschaden, Gott sei Dank ausschliesslich), dann ein Verschulden des Haftpflichtigen (abgestuft in leichte oder grobe Fahrlässigkeit, mit Einfluss auf das Mass der Haftung; Ausnahme: Kausalhaftung, d.h. Haftung ohne Verschulden) und schliesslich einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, sprich der schädigenden Handlung und dem Schaden, Prädikat «adäquat», also eine Ursache, ein Verhalten oder eine Unterlassung, die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach allgemeiner Lebenserfahrung zum erwähnten Schaden führt.
Von diesen 4 Kriterien steht eindeutig die Kausalität an erster Stelle der Sachverhaltsermittlung. Was hat zum Unfall geführt? Welche Ursache steht am Anfang einer Kausalkette von Umständen, die nicht durch Zufall, sondern logisch und konsequent zum Unfall und zum Schaden bzw. Folgeschaden geführt haben?
Im Vordergrund der Analyse steht somit die Frage nach dem gebrochenen Rad, nach den Umständen, die zum Radbruch geführt haben. Dabei steht folgender Befund im Zentrum der Abklärungen:
«Über die Entstehung der Risse will die SUST erst im Schlussbericht informieren. Explizit erwähnt sie aber, dass dieser Waggon über Bremsen des Typs LL (für low noise, low friction) verfügte. Diese bestehen aus Verbundstoffen. Bemerkenswert ist zudem ihr Hinweis auf zwei ähnliche aktenkundige Risse in typenähnlichen Rädern, die 2016/17 in Belgien und Italien entdeckt wurden. Dabei zitiert die SUST aus dem Sicherheitsalarm der EU-Eisenbahnagentur zu den zwei Vorfällen. Sie seien auf «thermische Überbe–anspruchungen der Räder» zurückzuführen, und künftig sei eine Überwachung von Bremssohlen aus Verbundstoffen erforderlich.» (SUST, Zwischenbericht, zitiert in NZZ, 3.11.2023).
Die alten Bremsklötze aus Grauguss vergleichbar mit den Bremsen, die aus der Zeit der Kutschen stammen, wurden alle weitgehend ersetzt, weil ihre Lärmentwicklung an Bahnhöfen untragbar war. Diese ausgedienten Bremssysteme hatten allerdings den Vorteil, dass sie nicht einer thermischen Überbeanspruchung ausgesetzt waren und somit Risse aufgrund einer Überhitzung der Räder praktisch ausgeschlossen werden konnten. Bei den neueren LL-Sohlen, die ab 2020 vorgeschrieben sind, scheint dies nun nicht der Fall zu sein. Der Bahnexperte Ruedi Beutler moniert zudem, dass die LL-Sohlen nur mit Ablaufdatum hätten zugelassen werden sollen, da ihre Zuverlässigkeit ab diesem Zeitraum generell überprüft werden sollte [3]. Doch wer hat den Überblick über die Güterwagen aus aller Herren Länder, die den Gotthard im Einzelwagenladungsverkehr durchqueren? [4] M.E. ist hier klar der Wagenbetreiber in der Pflicht, der die Konformität der Zulassung seiner Wagen nachweisen muss. Es kommt somit darauf an, wie lange die Räder des fraglichen Wagens bereits auf LL-Sohlen umgerüstet waren und entsprechend auf Zuverlässigkeit hätten überprüft werden sollen bzw. wie weit die kurz- und langfristigen Massnahmen zur Risikobegrenzung im Rahmen des Safety Alert Systems (SIS) der Eisenbahnagentur der EU (ERA) Handlungen bzw. Unterlassungen des zuständigen Wagenhalters (DB-Cargo) erfordert hätten.[5]
Trübe Aussichten im Cargo-Verkehr durch den Gotthard
Der GBT wurde v.a. im Hinblick auf Verlagerungsziele Strasse – Schiene gebaut. Das sicher sehr erstrebenswerte Ziel wurde allerdings nur teilweise erreicht und scheint zu stagnieren bzw. sich aufgrund von Preissteigerungen rückläufig zu entwickeln [6]. Die HUPAC bemängelt die fehlende leistungsfähige Infrastruktur, die den strategischen Anforderungen des Güterverkehrs gerecht werden könnte. Dazu gehört insbesondere ein durchgehender leistungsfähiger KV-Korridor mit einem 4-Meter-Profil auf der gesamten Achse Rotterdam-Genua, eine Zuglänge von 750 Metern und ausreichende, qualitativ hochstehende Trassen.[7] Diese ehrgeizigen und nur international durchsetzbaren Anforderungen scheitern jedoch an ökonomischen und politischen Realitäten, sprich an notorischen Defiziten v.a. auch des Binnen-Cargoverkehrs als Folge des unrentablen Einzelwagenladungsverkehrs und an der im Vergleich zum Personenverkehr geringeren Priorisierung des Güterverkehrs.
Wie fügt sich nun der bedauerliche Unfall im GBT in diese Szenarien ein?
Der abgetretene BAV-Direktor scheint rasch zur Tagesordnung übergehen zu wollen, der Haftpflichtige scheint erkoren zu sein, Versicherungen werden zahlen und Prämien steigen, die Nutzer werden sich über den renovierten GBT freuen (Motto: «Jetzt flicken wir den Gotthard, dann sieht alles wieder so schön aus wie vorher») [8]. Kann man diesen Jahrhundertunfall einfach so klassieren? Ist die hohe Seltenheit eines Radbruchs Anlass genug, um auf notwendige Investitionen in die Sicherheit des Güterverkehrs zu verzichten oder sollte nicht umgekehrt alles unternommen werden, um die zahllosen Güterwagen aus Nord, Süd, Ost und West, die regelmässig den renovierten, hochwertigen GBT durchqueren sicherer zu machen? Vorschläge gibt es zuhauf: Entgleisungsdetektoren, deren 4 pro Wagen, automatische Kupplungen für den Datenfluss von Wagen zu Wagen, ausgestattet mit Sensoren, die Entgleisungen früher erkennen, oder einfach zurück zur Klangprüfung mit dem Langhammer an Wagenrädern, so wie sie früher praktiziert wurde, um Haarrisse zu entdecken. Das BAV und die ERA kommen nicht darum herum, den gordischen Knoten zu durchbrechen: sie müssen sich zu einer klaren Stellungnahme zu LL-Bremssohlen und deren Wärmentwicklung durchringen, dies nachdem erste negative Erfahrungen aus den Jahren 2016/17 (Belgien und Italien) nun durch den Unfall im Gotthard bestätigt worden sind. Die leeren Kassen der KV-Cargo-Unternehmen binden den Behörden allerdings die Hände und lassen wenig Hoffnung aufkommen. So wird wohl das Risiko von Radbrüchen bei Rädern mit LL-Sohlen weiterbestehen und kurzfristig kaum behebbar sein, schon gar nicht im internationalen Kontext der Güterwägen unterschiedlicher Provenienz und Bauart.
Mit verklärtem nostalgischem Blick trauert man der Grauguss-Bremse aus der Kutschenzeit nach, die wohl laut war, aber sicherer als ihre geräuscharmen Nachfolger.
Ausblick
Sobald der Schlussbericht der SUST erschienen ist, werden wir auf das Thema zurückkommen. In der Zwischenzeit gilt: «Cross your fingers»!
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch
[1] Vernehmlassung zur Teilrevision Verordnung des BAV-Eisenbahn-Netzzugang (NZV-BAV) https://www.hupac.com/EN/NEWS-718f3000?altlng=1
[2] Die gemäss Eisenbahn-Haftpflichtrecht zuständige SBB-Cargo hat u.U. Möglichkeiten eines Rückgriffes auf den für die Zulassung und Wartung zuständigen Wagenhalter (DB Cargo), worüber Experten derzeit nicht einig sind, vgl. https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-27-08-2023-hauptausgabe?urn=urn:srf:video:f1097686-92fb-43bd-8251-16888f229749
[3] NZZ, 2.3.2024
[4] EBR, 11/2023, S. 511
[5] EBR, 11/23, S. 510
[6] https://www.hupac.com/EN/NEWS-718f3000?altlng=1
[7] HUPAC, Positionspapier 2011 https://www.hupac.ch/Positionspapier-KV-Korridor-c9722900?MasterId=g1_220
[8] Sonntagsblick, 23.8.2023