Der komplexe Rollmaterial-Langzeitvertrag –
Societas Leonina oder faire Partnerschaft?
Ein Löwe, ein Fuchs und ein Esel gingen miteinander auf die Jagd. Sie waren übereingekommen, dass die Beute redlich geteilt werden sollte. Die Beute war groß, und der Löwe sagte dem Esel, er solle alles gewissenhaft aufteilen. Der Esel machte es so und bat den Löwen dann, zu wählen. Da zerriss der Löwe mit lautem Gebrüll den Esel und befahl dem Fuchs, neu zu teilen. Dieser häufte die ganze Beute zusammen, legte den Esel noch dazu und erbat sich nur eine kleine Wenigkeit für seine Mühe.
„Schön, mein Freund“, raunte der Löwe. „Aber sage mir doch, wer hat dich so schön teilen gelehrt?“ „Das Schicksal des Esels“, antwortete der Fuchs (nach Aesop).
Taugt der Vergleich?
Bei den komplexen Langzeitverträgen geht es um die gemeinsame Durchführung eines längerfristigen Projektes. Die Parteien, die einen Langzeitvertrag schliessen, verfolgen langfristige Ziele. Ihr Verhältnis gleicht eher einer langfristigen Partnerschaft und weniger dem klassischen Synallagma, das durch einen punktuellen Leistungsaustausch gekennzeichnet ist.
Für eine „Societas“, eventuell sogar für eine „Societas Leonina“ sprechen folgende Eigenheiten des Marktumfeldes:
- Rollmaterialbeschaffungen sind komplexe Projekte mit einer Lebenserwartung von 40 Jahren. In dieser Zeit muss sich die Beziehung vom reinen Austausch zur Partnerschaft wandeln, damit sie überlebt.
- Der Umstand, dass der Lieferant in einem engen Markt agiert und immer wieder die gleichen Bahnkunden unter Vertrag nimmt, schafft eine historische Dauerbeziehung. Die Qualität dieser Dauerbeziehung kann die Abschlusschancen künftiger Projekte verbessern oder belasten.
- Die Komplexität der Beschaffung setzt eine funktionierende Projektorganisation mit klaren Zuständigkeiten auf beiden Seiten voraus. Im Vergleich zum Unternehmer-Besteller Verhältnis, das im Obligationenrecht vorgezeichnet ist, nimmt der Besteller eine weit aktivere Rolle ein. Änderungen des Leistungsumfanges verlangen kompetentes und zeitnahes Reagieren, die Mitwirkung des Bestellers ist Pflicht und nicht Obliegenheit und Konflikte müssen nach modernen Regeln des Konflikt-Managements rasch gelöst werden.
- Das hybride Zusammenwirken der Parteien verwischt den kausalen Zusammenhang von Ursache und Wirkung im Projektgeschehen mit der Folge, dass vertragswidrige Entwicklungen im Regelfall dem Unternehmer zugeordnet werden, obschon er diese nur bedingt vertreten kann. Einflussnahmen Dritter (Subunternehmer, Zulassungsbehörden, Behindertenverbände, des Bahnkunden selbst etc.) muss er berücksichtigen, auch wenn sie seine Pläne durchkreuzen.
Der Vergleich des komplexen Rollmaterial-Langzeitprojektes mit einer „Societas“ oder gar einer „Societas Leonina“ ist somit so abwegig nicht. Die Kräfteverhältnisse während der Ausschreibung sprechen für eine klare Zuweisung der Rollen. Die Rolle des Löwen kann sich aber im Zuge des Projektes ändern, wenn Anbieter den langfristigen Unterhalt und die Wartung der Fahrzeuge sicherstellen müssen. Fest steht allerdings, dass die Erzwingung von Nachteilen, die Überwälzung von Risiken in der Vertragsphase und die mangelhafte Kooperation in der Projektphase in der Regel nicht vom Löwen auszubaden sind.
Der Lieferant ist Esel oder Fuchs, er geht entweder unter oder muss sich mit wenig begnügen.
Der rollende Vertrag
Der komplexe Langzeitvertrag ist ein „rollender Vertrag“. Aufgrund seiner Tragweite und Langfristigkeit kann er nicht abschliessender Natur sein. Im Zeitrahmen von mehreren Jahrzehnten ändern nicht nur Gesetze und Normen, sondern auch Ansprüche und Erkenntnisse. Der initial vereinbarte Anforderungskatalog kann Inkonsistenzen aufweisen oder muss aufgrund neuer technischer Erkenntnisse angepasst werden. Dabei stellt sich die schwierige Abgrenzungsfrage, ob eine Eigenschaft falsch angeboten oder ausgeschrieben worden ist oder ob sie objektiv eine Ergänzung zum Leistungs- oder Lieferumfang darstellt. Die Vertragspartner müssen herausfinden, ob das sich stellende Problem Teil der vereinbarten Leistung ist oder neu zum vereinbarten Lieferumfang hinzukommt. Hier liegt wohl eine der schwierigsten Aufgaben im Projekt, die oft in Streitigkeiten und damit langwierigen Eskalationsprozessen ausmündet.
Neigt die Partnerschaft mehr zur leoninischen Sorte sind Terminverzögerungen vorprogrammiert. Ein Lieferant, der über 400 Leistungsänderungen bei über 3000 Anforderungen zu bewältigen hat, kann unmöglich die ursprünglich geplanten Liefertermine einhalten. Formelle Auseinandersetzungen über Vertragsinhalte schaffen zudem Konfliktpotenzial. So wird der Änderungsprozess an bestimmte Formulare und Prozesse gebunden, die am Kern des Problems vorbeigehen: im Vorfeld eines Änderungsverfahrens vorfrageweise nach klaren Kriterien zu klären, ob eine Änderung Teil des Liefer- oder Leistungsumfanges ist oder genuin neu mit Termin- und Kostenfolgen für den Bahnkunden.
Änderung von Normen, Gesetzen, Richtlinien
Ein Lehrbuchbeispiel eines Änderungsprozesses, der über Jahre vor Gericht ausgetragen werden musste, ist die Auseinandersetzung um die massgebende Norm, die den Menschen mit eingeschränkter Mobilität beim Einstieg in den FV_Dosto das Leben etwas erleichtern sollte (EBR 1/19, S. 13 ff.). Trotz einer in den Anfängen des Projektes aufgestellten 1:1-Maquette des Zuges, die von den interessierten Verbänden zusammen mit der SBB eingehend begutachtet werden konnte eskaliert ein Streit nach Fertigstellung der Fahrzeuge um einen Neigungswinkelunterschied im Promillebereich. Gutachter bestätigen, dass bei gemessenen 6 Rampen der Neigungswinkel zwischen 14,58% und 14,91% liegt. Die maximal zulässigen 15%, die sich aus der massgebenden TSI-PRM ableiten sind also unterschritten. Trotzdem ist ein Rechtsverfahren immer noch hängig vor Bundesgericht und verunsichert alle Beteiligten – 12 Jahre nach Zuschlag. Falls massgebende Normen zwischen Zuschlag und Ablieferung ändern, muss zwingend ein echter Change Control Prozess stattfinden mit Kostenfolgen für den Besteller und angemessenen Terminanpassungen.
Eskalationsprozesse
Eskalationsprozesse werden jeweils vertraglich unter dem Titel „Differenzenmanagement“ abgehandelt. Es sind rein formale Verfahrenspapiere, die bei einer Differenz die höhere hierarchische Ebene involvieren, Fristen setzen, Experten einberufen und als Ultima Ratio Gerichtsverfahren vorsehen. In einem Langzeitprojekt sind sie unvermeidlich. Sie funktionieren nur, wenn die Parteien sich im Vorfeld von Auseinandersetzungen einem neutralen Schiedsgericht unterwerfen, das über die nötige Expertise und Kompetenz verfügt.
Dialogverfahren
Das im Vergaberecht institutionalisierte Dialogverfahren (vgl. Art. 24 BöB) kann Abhilfe schaffen, scheitert aber regelmässig am Umstand, dass es den Beschaffungsprozess verteuert und verlängert. Es versteht sich als richtiges Vorgehen bei „komplexen Aufträgen“ kann aber noch keinesfalls auf Erfahrungen zurückblicken. Wie sich das Vertragswesen bei komplexen Aufträgen im Dialog weiterentwickeln sollte, werden wir in einem speziellen Briefing vertiefen.
Wer ist Löwe, Fuchs und v.a. wer ist Esel im Rollmaterial-Vergabeprozess?
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Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur. RailöB GmbH, Managing Partner, bertrand.barbey@netmind