Die Erzwingung von Geschäftsbedingungen im Spannungsfeld von Wettbewerb und Beschaffungskomplexität
Die formell hohen Anforderungen an das Angebot – eine Konsequenz der formellen Strenge des Vergaberechtes – bedeuten praktisch mehr Umfang, mehr Widerspruch und mehr Spekulation. Statt zu offerieren worüber und so weit Klarheit besteht wird zu einem grossen Anteil Wissen spezifiziert und akzeptiert, das in keiner Weise gesichert ist. Der Anforderungskatalog droht damit unerfüllbar zu werden, das Angebot zum Blindflug. Die interne Governance des Anbieters ist dabei gegen derart unkalkulierbare Risiken machtlos.
Problemstellung
Die Durchsetzung eigener Vorteile gehört zum Wesen des Wettbewerbes und ist nicht zu beanstanden. Seit Adam Smith und seiner „unsichtbaren Hand“ des Wettbewerbes herrscht grundsätzlich Einsicht darüber, dass die Verfolgung eigener – egoistischer – wirtschaftlicher Interessen im Endeffekt zu besseren Marktergebnissen führt, als wenn der Staat regulierend – „mit sichtbarer Hand“ – in den Wettbewerb eingreift. Diese zuweilen veraltete Sicht mag in zahlreichen Sektoren von den Fakten überholt worden sein, man denke an die überwiegenden Sektoren, in denen der regulierende Staat mit Normen die Wettbewerbsverhältnisse aus wirtschaftspolizeilichen Gründen steuern muss, so auch im Bahnsektor und seinem immer dichteren Geflecht von Normen. Wenn nun in einer Beschaffung Geschäftsbedingungen von der Beschaffungsstelle erzwungen werden erscheint dieser Tatbestand im Vergleich mit den Normen und allgemeinen Marktbedingungen, die sonst im Rahmen einer Beschaffung zum Tragen kommen als vernachlässigbar. Spielen die erzwungenen Haftungsbedingungen im Vertrag überhaupt noch eine Rolle, wenn sie im Anforderungskatalog von Zugeständnissen und Muss-Kriterien mehrfach übersteuert werden? Der Umstand, dass vertraglichen Konzessionen im Vergleich zu technischen Anforderungen im Bieterprozess eine geringere Bedeutung zukommt heisst aber noch lange nicht, dass damit das Problem der „AGB-Erzwingung“ vom Tisch ist. Die abstrakte und hypothetische Konsequenz von Verträgen, verstanden als „what-if“ -Regelungen wirkt sich vielmehr als Brandbeschleuniger von Problemen aus, die auf der technischen Ebene entstehen und oft von der Anbieterseite aufgrund einer komplexen Ursachenlage nur teilverschuldet sind.
Wieso wichtig?
Der sogenannte blaue Teil des Werkliefervertrages (WLV) ist unverhandelbar. Sollte die Lieferantin Teile des unverhandelbaren Vertrages ganz oder teilweise zurückweisen wird sie vom Verfahren ausgeschlossen. In diesem Sinne wird die Anbieterin von Rollmaterial zur Offertabgabe eingeladen. Ein «Friss-oder-stirb»-Approach, der klar signalisiert, wer den Prozess steuert.
Begründet wird der Machtanspruch zuweilen mit dem Gebot der Gleich- bzw. vielmehr Gleichschlechtbehandlung der Anbieter. Ein Werkliefervertrag wie jener im Projekt «FV_Dosto» käme somit unter normalen Wettbewerbsbedingungen niemals so zu Stande. Nachteilige Vertragsbestimmungen, insbesondere Pönalen bei Terminüberschreitungen bzw. bei qualitativen oder quantitativen Zusicherungen, Mehrkosten infolge von unkalkulierbaren Risiken, die dem Anbieter überwälzt werden, Subunternehmerrisiken oder Risiken, die Dritte verursachen etc. lassen sich auch bei bester und aufwändiger interner Governance nicht abfedern, zumal eine Verteuerung des Angebots aus naheliegenden Gründen nicht erwünscht ist.
WLV FV_Dosto – wieso erzwungen?
Der Werkliefervertrag FV_Dosto zwischen der SBB und Bombardier Transportation (Switzerland) AG vom 15. Juni 2010 kann als Paradebeispiel eines weitgehend erzwungenen Vertrages bezeichnet werden. Neben dem Hauptvertrag (Werkliefervertrag) umfasst er 31 zum Teil wichtige Anhänge, wie z.B. die zahlreichen pönale-bewehrten Terminanforderungen.
Der blaue, unveränderbare Teil des Vertrages umfasst etwa 2/3 des Vertrages.
Von eminenter Bedeutung ist der technische und funktionale Anforderungskatalog, der sämtliche geforderten Eigenschaften des Werks aufführt, die der technischen Beschreibung des Werks durch die Lieferantin, d.h. der eigenen Spezifikation des Werks in jedem Falle vorgehen, sodann interessieren die vertraglichen Konsequenzen aller Marktergebnisse, die mit diesen Anforderungen kollidieren. Diese sind im Detail austariert können wie folgt klassifiziert werden:
- Terminüberschreitungen
- Abweichungen von zugesicherten technischen und funktionalen Anforderungen
- Abweichungen von übrigen Anforderungen und Zusicherungen
Die WEKO definiert Marktmacht, als die Fähigkeit eines Marktteilnehmers, sich von anderen Marktteilnehmern «in wesentlichem Umfang» unabhängig zu verhalten (WEKO 2007/4, S. 521). Diese Voraussetzung ist im Verhältnis Bahnkunde – Lieferantin m.E. immer dann gegeben, wenn auf der Anbieterseite Wettbewerb herrscht. Wohl ist der Bahnkunde auf die Produkte der Anbieter angewiesen, insofern also von ihrem Angebot abhängig. Was die Spielregeln der Ausschreibung angeht agiert er allerdings in einem abgegrenzten relevanten Markt, den er eigenmächtig definieren kann. Die Wettbewerbsintensität ist unter Anbietern so hoch, dass sie bereit sind Risiken einzugehen, die sie unter Wettbewerbsverhältnissen niemals ein-gehen würden. Sobald allerdings bilaterale Monopole entstehen, d.h. eine Mehrheit von Anbietern nicht mehr bereit sind, sich einer Ausschreibung zu stellen und nur noch ein Anbieter verbleibt ändert das Beschaffungsklima radikal. Jetzt muss sich der Bahnkunde dem Anbieter anpassen und nicht umgekehrt.
Kann die WEKO gegen Wettbewerbsbeschränkungen im Austauschprozess von öffentlichen Beschaffungen einschreiten?
Ein hier relevantes Mittel gegen Störungen des Austauschprozesses sieht das Kartellgesetz in Art 7, Abs. 2 lit. c vor. So kann die Wettbewerbskommission (WEKO) u.a. gegen «die Erzwingung unangemessener Preise und sonstiger unangemessener Geschäftsbedingungen» vorgehen, vorausgesetzt, diese gehen von marktbeherrschenden oder relativ marktmächtigen Unternehmen aus und wenn sie die Marktgegenseite missbräuchlich benachteiligen. 1
Man stelle sich vor: die WEKO, von einem Anbieter in ein Beschaffungsverfahren involviert, um «missbräuchliche» bzw. «unangemessene» Geschäftsbedingungen zu korrigieren. Abgesehen davon, dass durch eine solche Aktion, die in der Form einer Vorabklärung oder einer Untersuchung nach Art. 25/26 KG zu erfolgen hätte die Zuschlagschancen des Einsprechers kaum steigen dürften sind die praktischen Folgen einer derartigen Intervention auf den Beschaffungsprozess kaum vorstellbar. Das Verfahren würde nachhaltig unterbrochen, die WEKO hätte die schwierige Aufgabe, neben der Marktmacht der Beschaffungsstelle auch konkrete Geschäftsbedingungen auf deren Angemessenheit hin zu überprüfen.
Davor dürfte sich die WEKO in jedem Fall scheuen. Es ist somit davon auszugehen, dass die Rechtsmittel gegen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auch in diesem Fall toter Buchstabe blieben.2
Und trotzdem: ein Bahnkunde wir die SBB ist und bleibt marktmächtig, solange die Intensität des Anbieterwettbewerbes im Parallelprozess hoch ist. Eine Jahrhundertausschreibung, wie jene über die Beschaffung von Fernverkehrs-Doppelstockzüge der SBB gilt kartellrechtlich als sachlich, örtlich und zeitlich «relevanter» Markt. Zeitlich relevant ist der Markt nicht nur durch die Dauer des Ausschreibungsverfahrens, sondern auch durch die Marktzyklen, die einem Zuschlag folgen (Kreativ-, Expansions-, Sättigungs- und Rückbildungsphasen des Marktes3.Marktmacht der Beschaffungsstelle gilt als gegeben, wenn wie im Fall der strategischen Flottenbeschaffungen Rollmaterial 40 Jahre im Einsatz sein soll und damit Standortentscheide verbunden sind. Weit schwieriger zu entscheiden ist die Frage der missbräuchlichen Geschäftsbedingungen, die erst ein Eingreifen nach Art 7, Abs. 2, lit.c rechtfertigen würden. Nachdem sämtliche Teilnehmer einer Ausschreibung, die gleichen Spielregeln einhalten müssen kann grundsätzlich die Frage einer Diskriminierung von Anbietern ausgeschlossen werden. Alle Teilnehmer werden gleich bzw. gleich schlecht behandelt. Umso mehr interessiert die Frage des Missbrauches: könnte der Bahnkunde – wäre er Wettbewerbsbedingungen ausgesetzt gleichermassen fordern, gleichermassen eigene Vorteile durchsetzen? Kann der durchgesetzte, tiefste Angebotspreis den Prüfungsansätzen standhalten (konkreter Preisvergleich, Kostenmethode, hypothetischer Marktpreis, Preis-Leistungsverhältnis, Vergleichsmarkt)? Wären die Garantien, insbesondere die Produkt- und Termingarantien unter wettbewerblichen Verhältnissen durchsetzbar? Wo liegen die Reizschwellen des Missbrauchs?
Diesen Fragen wollen wir am Beispiel der Produkt- und Termingarantien nachgehen und in den kommenden Briefings weiter vertiefen.
Mehrfach-Terminpönalen
Der Anspruch auf Termintreue und eine termingerechte Umsetzung des Projektes ist bei strategischen Flottenbeschaffungen mehr als gerechtfertigt. Das Rollmaterial muss zeitgerecht, idealerweise bei einer Fahrplanänderung verfügbar sein. Der Schaden einer Verspätung für den Bahnbetreiber und indirekt auch für die Bahnkunden evident.
Und trotzdem: im WLV wird dieser Anspruch durch ein dichtes Netz von Terminpönalen abgedeckt, der unter Wettbewerbsverhältnissen unvorstellbar wäre:
- Je Einheit verfällt eine Pönale beim Übernahme- und Abnahmetermin
- Im Vorfeld der Vertragserfüllung sind eine Vielzahl von Meilensteinen unter Androhung von weiteren Pönalen einzuhalten (einmalige bzw. monatlich zu bezahlende Pönalen)
- Bonusregelungen für verfrühte Termineinhaltung von Zwischen- und Endterminen fehlen dagegen weitgehend
- Das Maximum der für Verspätung zu bezahlenden Pönalen ist immerhin limitiert, z.B. mit 25% der Serienpreise je verspätete Einheit, und zwar unabhängig davon, ob die verspätete Abnahme eine Folge der verspäteten Übernahme ist
- Hinzu kommen Gewichts- und Energieverbrauchspönalen, die Prognosen voraussetzen, die oft nicht möglich sind
Pönalen sind voraussetzungslos geschuldet, im Gegensatz zu Schäden, deren Anspruch eine fundierte Beweisführung von Ursache, Kausalzusammenhang und Schaden voraussetzt. Pönalen in diesem Umfang beinhalten somit ein kaum kalkulierbares Risiko, weil sie Drittursachen einschliessen, die vom Anbieter direkt nicht gesteuert werden können. Zu denken ist insbesondere an die Rolle der Zulassungsbehörden im internationalen Kontext und an die starke Einflussnahme des Bahnkunden auf die Projektgestaltung und die Abhängigkeit von Subunternehmern. Dieses Risiko einseitig dem Anbieter zu überbürden vermag nur ein Bahnkunde, der marktmächtig ist und seine Geschäftsbedingungen einseitig durchsetzen kann.
Zugesicherte Anforderungen und Änderungen
Garantien sind zugesicherte Eigenschaften eines Produktes. Sie lösen im Eintretensfall befristete Garantieansprüche aus. Garantien gehören zu jedem Werkliefervertrag und sind im Grundsatz unerlässlich, weil im Gegensatz zum Kaufobjekt das Werk noch entstehen muss und im Startzeitpunkt des Projektes erst in Plänen vorliegt. Je besser die Pläne, je sicherer die Ablieferung des Werkes. Je ungenauer, unsicherer die Pläne umso grösser die Risiken. Die Kunst besteht darin, die Einflussnahmen Dritter im Vorfeld der Offerte genau vorauszusehen und einzukalkulieren. Wenn der Vertrag und die zugesicherten Eigenschaften des Produktes stehen, ist es bereits zu spät.
Der Rollmaterialanbieter steht vor einer mehrfachen Herausforderung: er muss erstens die zwingenden Anforderungen des vom Kunden vorgegebenen Anforderungskataloges – ist dieser in sich konsistent oder nicht – akzeptieren, sonst kann er an der Ausschreibung nicht teilnehmen. Er muss sich zweitens als Generalunternehmer bei seinen Systemlieferanten oder bei jenen, die der Bahnkunde ihm vorschriebt absichern, was nicht selbstverständlich ist. Zudem muss er drittens das Verhalten der Zulassungsbehörden und die Entwicklung der Normen inhaltlich und zeitlich richtig einschätzen, was v.a. im internationalen Kontext schwierig ist. Und schliesslich spielen Dritte wie z.B. Behindertenorganisationen bei der Planung von Design und Ausbau eine immer wichtigere Rolle, die es zu berücksichtigen gilt.
Die korrekte Leistung dieser Planungsarbeit ist bei innovativen Projekten, die z.B. eine neue Drehgestell-Technologie wie die Wank-Kompensation (WAKO) beinhalten, um Anforderungen des Kunden zu erfüllen, fast unmöglich. Die Chancen, dass der Lieferant unter diesen Umständen Garantieversprechen abgeben muss, die er garantiert nicht einhalten kann sind gross. Entsprechend mutieren Zusicherungen zu den Themen Gewicht, Energieverbrauch, Lebensdauer von Komponenten u.a.m. zur reinen Lotterie. Dass sie der Bahnkunde ohne weiteres durchsetzen kann, lässt darauf schliessen, dass er die Interessenlage stark zu seinen Gunsten ausnützt, in einer Art und Weise, die unter Wettbewerbsverhältnissen undenkbar wäre.
Abweichungen von übrigen Anforderungen und Zusicherungen
Im WLV der Flottenbeschaffung sind weitere, nicht minder fragwürdige Forderungen enthalten, die Pönalen auslösen können (z.B. Geheimhaltung), die in die Rechtsverhältnisse zwischen General- und Subunternehmern eingreifen (z.B. Ersatzteillieferpflichten, Werkzeuglieferpflichten), die eine überschiessende Abtretung von Urheberrechten oder langfristige Hinterlegungspflichten beinhalten. Die Qualität und Dauer dieser Forderungen sind einmalig und ebenfalls unter Wettbewerbsverhältnissen undenkbar.
Fazit
Die «AGB-Erzwingung» ist Ausdruck wirtschaftlicher Macht. Im Rollmaterialsektor verfügt dieser Vorgang über einheitliche Muster und Inhalte. Die unterschiedenen Gruppen von Forderungen (Termine, Garantien, sonstige) weisen eine Intensität auf, die in Märkten, wo Wettbewerb herrscht, undenkbar wären. Der Mechanismus der vergaberechtlichen Erzwingung verschafft wunderbare Tarnung, indem ja alle Teilnehmer einer Ausschreibung gleich bzw. gleich schlecht behandelt werden. In Märkten mit wenig Ausweichpotential wie in Rollmaterialmärkten besteht zudem eine meist einseitige Abhängigkeit der Lieferanten vom Bahnkunden, die jeden Versuch einer Korrektur in den Keimen erstickt. Nur nach einer verlorenen Ausschreibung kann sich der Lieferant etwas Luft verschaffen, meist ohne Erfolg.
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Erzwungene Geschäftsbedingungen – kein Ausdruck von funktionierendem Wettbewerb
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.,
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch