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Wettbewerb im Austauschprozess?
Briefing 3/22

«Fairer und wirksamer Wettbewerb» im BöB – nur im Parallelprozess?

„Nach Abschluss der Selektion wird der Zuschlag vom Bahnkunden verkündet ohne Pflicht zur detaillierten Begründung. Der Anbieter weiss also nie genau, woran sein Angebot im Vergleich zum Zuschlagsempfänger gescheitert ist, was aus Sicht künftiger wirksamer Wettbewerbsprozesse erwünscht wäre“.

Problemstellung

Das Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) verfolgt u.a. den Zweck, den „wirksamen, fairen Wettbewerb unter den Anbieterinnen“ zu fördern (Art. 2/d BöB). Wettbewerb hat somit nach dem Willen des Gesetzgebers ausschliesslich im sogenannten Parallelprozess unter Lieferanten stattzufinden, nicht aber in Bezug auf die Beschaffungsstelle, im sogenannten Austauschprozess.

Diese Sicht überrascht nicht, geht es doch im Vergaberecht darum, „das wirtschaftlich günstigste“ bzw. neuer­dings das die Zuschlagskriterien „am besten erfüllende“ Angebot zu eruieren. Ob dabei dysfunktionale, arbiträre oder machtunterbaute Geschäftsbedingungen erzwungen werden, spielt keine Rolle, solange die öffentliche Hand profitiert.

Das Kartellgesetz verbietet den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung unter bestimmten Voraus­setzungen auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite, und zwar u.a. durch Erzwingung „unangemessener Preise und sonstiger unangemessener Geschäftsbedingungen“ (Art. 7/2/c KG).

Wie lassen sich nun diese Bestimmungen unter einen Hut bringen? Gibt es rote Linien, die von den Beschaffungs­stellen nicht überschritten werden dürfen? Gibt es Beschaffungssektoren in der Schweiz, die diesem Spannungs­feld besonders ausgesetzt sind? Hat es einen Sinn, dieser Frage nachzugehen, wenn die bisherige Rechtspraxis zu Art. 7/2/c KG so gut wie inexistent ist?1

Die Verhältnisse im Rollmaterialsektor der Schweiz bieten interessante Fragestellungen, die helfen können, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Die jüngsten Grossbeschaffungen von Rollmaterial liefern dabei eine Fülle von Information, die in diesem Kontext noch nie ausgewertet worden ist.

Wieso wichtig?

Der Wettbewerb ist ein allgemein anerkanntes Schutzobjekt unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung, das in zahlreichen gesetzlichen Erlassen verankert ist 2. So sehr Konsens darüber herrscht, dass Wettbewerb per se aus Gründen der freiheitlichen Privatautonomie aber auch aufgrund seiner innovativen Kreativität Schutz verdient, so schwer lässt sich eine gangbare Methode finden, die wirksamen, effektiven und fairen Wettbewerb definiert und kontrolliert. Die Bahnindustrie mit ihrem stark oligopolistischen, wenn nicht monopolistischem Anbieter­sektor3 und einer vom Vergaberecht geprägten Nachfrage mit zwangsweise wiederkehrenden Kundenbe­ziehungen bietet sich in diesem Zusammenhang als einmaliges Experimentierfeld an.

Wettbewerb – das Schutzobjekt

Die Bemühungen der Wirtschafts- und Rechtslehre herauszufinden, was effektiver, schutzwürdiger und fairer Wettbewerb ist reichen weit zurück 4. Ein Konsens besteht darin, dass aus rechtspolitischer Sicht eine Struktur- und Verhaltenskontrolle notwendig ist, um den Markteinfluss marktmächtiger Marktteilnehmer zu begrenzen und abgestimmtes Verhalten der Teilnehmer zu unterbinden, sofern es zu unerwünschten Ergebnissen führt. Dissens herrscht indessen bei den Instrumenten, die der Gesetzgeber bereitstellen soll, um diese Kontrollen durchzuführen.

So sind insbesondere zu erwähnen:

  • Die wirtschaftsrechtliche Diskussion der Adäquanz, Effektivität und Wirksamkeit von Koordinations­typen wirtschaftlichen Verhaltens (Plan, Wettbewerb oder Gruppenvereinbarung) gilt als überwunden.5 Die Rechtswirklichkeit hat sich längst von reinen Koordinationstypen verabschiedet. Galt lange Zeit staat­liche Planung und Lenkung der Wirtschaftsprozesse aufgrund der Erfahrungen in Staaten des Ostblocks als ineffektiv und dem Koordinationstyp Wettbewerb haushoch unterlegen begegnen wir heute kaum mehr Märkten, die nicht einer strengen Normierung und damit staatlicher Intervention unter­liegen und folglich mit freiem Wett­be­werb in klassischem Sinn unvereinbar sind.
  • Auch die Suche nach dem effizienten Modell des Wettbewerbes, das volkswirtschaftlich und sozial positive Ergebnisse hervorbringt ist still und leise abgeschlossen worden. Den Marktprozess in einem Modell «vollständiger Konkurrenz» abzubilden erscheint fiktiv, beweist doch die Rechtswirklichkeit, dass sich die Marktteilnehmer weder rational verhalten noch vollständige Markttransparenz suchen.6
  • die Hierarchie der einzelnen Wettbewerbsparameter bleibt auch nach Jahren steigender Komplexität der Wirtschaftsprozesse unverändert: die Prärogative des Preiswettbewerbes bleibt bestehen. Von allen Formen des Wettbewerbes wie Preis-, Produkt-, Forschungs-, Servicewettbewerb bleibt der Preiswettbewerb die dominante Grösse. Der Wettbewerb hat primär durch die Teilnahme mehrerer oder zahlreicher Teilnehmer die Preise tief zu halten und weniger die Bildung neuer Märkte zu fördern. Dieses statische Verständnis der Wettbewerbsprozesse schlägt sich in zahlreichen vergabe- und wettbe­werbsrechtlichen Regelungen nieder, und zwar immer dann, wenn Kontrollorgane herausfinden wollen, ob ein Preis nicht überhöht, ist bzw. ob eine Preisanpassung gerechtfertigt ist.7

Wenn wir uns somit mit der schwierigen Frage befassen, wieviel Wettbewerb wünschbar ist, und welche Wettbewerbsbeschränkungen volkswirtschaftlich und sozial schädlich sind stossen wir auf erkenntnis­theo­retische Schranken, die sich negativ auf die Rechtsanwendung auswirken. Es erstaunt deshalb nicht, dass eine echte Praxis zur Frage des Missbrauches wirtschaftlicher Macht marktmächtiger Unternehmen kaum existiert, trotz zahlreicher Versuche, das Thema voranzubringen.8

Wettbewerb in der Bahnindustrie

Die Anbieter von Rollmaterial haben ausschliesslich mit Bahnkunden zu tun, die dem öffentlichen Beschaffungs­recht unterliegen. Damit ergeben sich folgende, für die Rollmaterialmärkte typische Marktbe­dingungen:

  • die Vorgaben und Prozesse von Ausschreibungen finden nach einem vom Gesetz her geprägten Muster statt, im Raum und Zeit
  • die Angebotslegung ist stark formalisiert
  • die Selektion der Angebote erfolgt nach einem im voraus festgelegten Verfahren
  • Interaktionen im Sinne von Verhandlungen über den Beschaffungsgegenstand sind nur in engen Grenzen möglich
  • es herrscht strikte Geheimhaltung über das Marktverhalten der Konkurrenten
  • Der Zuschlag schlägt sich in der Regel in einem komplexen Langzeitvertrag nieder, der einen Zeithorizont von mehreren Jahrzehnten abdeckt.

Die Vorgaben des Vergaberechts führen somit zu einer starken Prägung des Angebotes nicht durch die Anbieter, sondern weit mehr durch die Nachfrageseite, den Bahnkunden. Die Rollen sind sozusagen vertauscht: der Bahnkunde definiert den Rahmen, die Bedingungen und die Struktur des Angebots detailliert, die Anbieter haben gegebenenfalls zu nicken, die Anforderungen zu akzeptieren und einen Preis für das im voraus spezifizierte Produkt zu nennen. Der Wettbewerb unter den Anbietern muss «wirksam und fair» sein, was immer das heisst, in der Ausschreibungsphase ohnehin, da strikte Geheimhaltung herrscht, und somit genau das Gegenteil offener Prozesse, die unter den Teilnehmern relative bessere Leistungen als jene des Konkurrenten ermöglichen. Nach Abschluss der Selektion wird der Zuschlag vom Bahnkunden verkündet ohne Pflicht zur detaillierten Begründung. Der Anbieter, weiss also nie genau, woran sein Angebot im Vergleich zum Zuschlags­empfänger gescheitert ist, was aber aus Sicht künftiger wirksamer Wettbewerbsprozesse erwünscht wäre.

Im Austauschprozess stellt sich die Frage, ob diese Marktstruktur Anforderungen und sonstige Geschäftsbe­dingungen schafft, die dem Zweck des Vergaberechts entsprechen und einen wirtschaftlichen – und volkswirt­schaftlich, ökologisch und sozial nachhaltigen – Einsatz öffentlicher Mittel begünstigen. Oder anders formuliert: ist die offenkundige Nachfragemacht der Bahnkunden und ihr möglicher Missbrauch mit dieser Zwecksetzung kompatibel, ist sie zu tolerieren?

SBB Fernverkehrs-Doppelstockzüge «FV-Dosto»

2010 hat die SBB bei der Firma Bombardier (Transportation) Switzerland AG 59 bzw. durch Vergleich später 62 Doppelstock-Fernverkehrszüge bestellt. Es handelte sich damals dabei um die grösste je getätigte Bahn-beschaffung in der Schweiz. Ende 2021 waren erst 53 Fahrzeuge ausgeliefert, übernommen bzw. normal in Betrieb. Wie konnte diese ungeheure Verspätung entstehen?

Noch nie wurde eine Lieferantin von Rollmaterial medial derart angeschwärzt wie die Lieferantin des „Pannenzuges“, „Schüttelzuges“ etc. Allein die Online-Boulevardpresse weist in ihrem Dossier „FV Dosto“ über zahllose, oft höhnische und oft einseitige Berichterstattungen auf. Sie reichen vom Problem der Störungen bei der Erprobung der Fahrzeuge bis zu unrealistischen Anforderungen und Sonderwünschen an einen Wagenkastenbau und ein Layout, das längst beschlossene Sache ist. Immer wieder fällt die Kritik der missliebigen ausländischen Lieferantin auf die Füsse, die ihren Schweizer Konkurrenten, der alles richtig gemacht hätte, in der Ausschreibung ausgestochen hat.

Es stellt sich nun die Frage, zu welchem Ergebnis die zahlreichen Aspekte der Ursachenanalyse führen. War es ein­fach schlichtes Unvermögen der Lieferantin? Oder spielen noch andere Aspekte eine Rolle? Welche? Wurden z.B. die Ausschreibungsunterlagen sorgfältig genug redigiert, wurden richtige Anforderungen formuliert? Wurden die Lieferanten zu Konzessionen gedrängt, die wiederum Einsparungen bei der Vertragsabwicklung zur Folge hatten? War der Werkliefervertrag, plausibel und klar genug formuliert, enthielt er Lücken und unklare Formulierungen? Wie lange dauerte es, bis ein Design-Freeze stattfinden konnte? Und ganz wichtig: wie gross war der Change-Aufwand während der Vertragsabwicklung, wiederum ein Zeichen unsorgfältiger oder aufge­zwungener und später widerrufener Spezifikationen?

Vorsichtige Prognose

Bedingt durch die vergaberechtlichen Leitplanken, die jede Form von Wettbewerbsbeschränkung auf Anbieter­seite unterbinden und höchste Geheimhaltung vorschreiben darf davon ausgegangen werden, dass der Anbieter­wettbewerb im Angebotsoligopol des schweizerischen Rollmaterialmarktes bislang sehr intensiv war. Die grossen Aufträge, um die die Anbieter konkurrieren konzentrieren sich auf wenige grosse Bahnkunden, die als Konsequenz des Vergabe­rechtes das Angebot spezifizieren und die Spielregeln des Zuschlages festlegen. Nicht die Anbieter konkurrieren mit kompetitiveren Angeboten um den Zuschlag, sondern die Beschaffungs­stelle, meist ausgestattet mit rechtlichem Mehrwert, entscheidet sich für das beste Angebot. Diese vergaberechtliche Eigenart der Rollmaterialmärkte führt zu einer Verzerrung des Wettbewerbes im Austauschprozess zwischen Anbietern und dem die Nachfrage kontrollierenden Bahnkunden. Dieser ist in der Lage, das Angebot einseitig zu steuern und inadäquate bzw. kartellrechtlich relevante Forderungen technischer wie auch kommerzieller Natur mit Rekurs auf das Gebot der Gleichbehandlung (besser «Gleichschlechtbehandlung») der Lieferanten zu rechtfertigen.

Ein Anbieter, der zum Beispiel Haftungsregelungen, exzessive Konventionalstrafen oder schlicht unkalkulierbare Risiken zurückweist muss schon gar nicht offerieren. Ihm wird der Zugang zum konkreten Beschaffungsgeschäft verwehrt. Es resultiert eine Situation, die genau den Sachverhalt der «Erzwingung von unangemessenen Geschäftsbedingungen» erfüllt, die das Kartellgesetz bei marktmächtigen Unternehmen als Missbrauch stempelt.

Nachdem sich der schweizerische Rollmaterialmarkt auch auf Anbieterseite zu monopolisieren scheint ist da­von auszugehen, dass der Wettbewerb im Parallelprozess der Anbieter völlig erlahmen wird und weiter im Austauschprozess mit den Bahnkunden wie in einem bilateralen Monopol an Intensität gewinnen wird. Zum Wohl oder zum Schaden der CH-Bahnwelt wird sich weisen.

Nur Wettbewerb garantiert Spitzenleistungen

Anschrift des Verfassers:

Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.,
bertrand.barbey@railoeb.ch

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