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FV_Dosto – Beschaffungsprozess
Briefing 1/22

FV_Dosto – SBB-Flaggschiff mit unglaublicher Verspätung

2010 hat die SBB bei der Firma Bombardier (Transportation) Switzerland AG 59 Doppelstock-Fernverkehrszüge bestellt. Es handelte sich dabei um die grösste je getätigte Bahnbeschaffung in der Schweiz. 12 Jahre später (Stand 09.21) sind erst 52 Fahrzeuge ausgeliefert und normal in Betrieb.

Wie konnte diese ungeheure Verspätung entstehen? Als beteiligter, heute pensionierter Mitarbeiter der Lieferantin, der sich intensiv mit dem Beschaffungsprozess und seiner praktischen Umsetzung befasst hat, ist es mir ein Anliegen, die Rolle dieses Prozesses bei der Beschaffung des FV Dosto zu hinterfragen und auf Schwächen und Mängel hinzuweisen. Es geht mir insbesondere darum, den Werkliefervertrag und seine prozesshemmenden Folgen zu analysieren, um daraus Empfehlungen für künftige Beschaffungen sämtlicher Bahnunternehmen in der Schweiz abzuleiten.


Noch nie wurde eine Lieferantin von Rollmaterial medial derart angeschwärzt und verunglimpft wie die Lieferantin des „Pannenzuges“, „Schüttelzuges“ etc. Allein die Boulevardpresse weist in ihrem Dossier „FV Dosto“ über mehr als 30 sehr kritische und kaum diskutierte Berichterstattungen auf. Sie reichen vom Problem der Störungen bei der Erprobung der Fahrzeuge bis zu undifferenzierten und unrealistischen Anforderungen an der Wagenkastenbau und sein Layout. Als Mitarbeiter der Firma wurde man in dieser Phase Teil der Kritik, was manchen nach langen Jahren des Einsatzes für diesen Zug schlecht bekam. Trotz Beweis des Gegenteils in vielen Punkten ist und bleibt der FV Dosto in den Augen der Öffentlichkeit ein Problemfahrzeug, eine Fehlinvestition. Wir versuchen, mit unseren Beiträgen diese Sicht zu korrigieren, wenngleich die Folgen negativer medialer Berichterstattung nicht rückgängig gemacht werden können.

Komplexes System auf Rädern

Nachstehend ein Einstieg in die problematischen Aspekte des Beschaffungsprozesses im Überblick, wie folgt: 1

  1. Die Ausschreibung
  2. Der Werkliefervertrag
  3. Der Anforderungskatalog
  4. Der Zuschlag

Zu I:

Die Ausschreibung vom April 2009 umfasste eine erste Tranche von 59 Fahrzeugen, wovon 9 auf die Variante IR 100 (100-m-Zug für den Interregioverkehr, 300 Sitzplätze, 22-26% erste Klasse), 20 auf die Variante IC 200 (200-m-Zug für den Intercityverkehr, 580 Sitzplätze, 25-30% erste Klasse, Restaurant­wagen, Gepäckabteil) und 30 auf die Variante IR 200 (200m Zug für den Interregioverkehr, 670 Sitzplätze, 22-26% erste Klasse) entfielen. Die geforderte Höchstgeschwindigkeit betrug für alle Varianten 200 km/h. Zwingend war eine Zulassung in der Schweiz, Österreich und Deutschland vorgeschrieben. Optionen bestehen nach wie vor für weitere 53 bzw. 59 Züge ab 2019 bzw. 2024. Der erwartete Wert der Ausschreibung lag bei CHF 2,1 Mia.

Zu II:

Der Werkliefervertrag mit seinen Anhängen umfasste mehr als 300 Seiten. Etwa 80% des Vertrages enthielt zwingende – unverhandelbare, d.h. einseitig aufgezwungene – Vorschriften, die diskussionslos unter Androhung des Ausschlusses zu akzeptieren waren.

Zu III:

Ein schier endloser Katalog von Variantenanforderungen erschwerte den Überblick über die technischen Anforderungen. Von über 3000 technischen Anforderungen waren deren 700 „wichtig“ oder „Muss-Anforderungen“, Anforderungen also, deren Nicht-Erfüllung grundsätzlich zum Ausschluss des Anbieters führen musste. Herz- und Nierenstück der Ausschreibung war die Anforderung, wonach in Lausanne ein Taktknoten zu realisieren sei, der einen Stundentakt zwischen den Zentren ermöglicht. Hierzu nötig ist ein schnelleres Fahren in den Kurven, das mit einer innovativen Technik die trägheits­bedingte Neigung des Wagenkastens nach aussen verhindern soll. Bombardier hat diese Anfor­derung mit der sog. Wankkompensation (WAKO) erfüllt.

Zu IV:

Der Zuschlag erfolgte auf der Grundlage folgender Kriterien: Gesamtwirtschaftlichkeit und Termin­einhaltung mit 30%, enthaltend als Unterkriterien 9% strikte Termineinhaltung, 13% Jahresbetriebs­kosten, 8% Anschaffungskosten; Erfüllung des Anforderungskataloges mit weiteren 30%; Erfüllung und Akzeptanz des (teilweise) verhandelbaren Werkliefervertrages und seiner Anhänge mit 20%, und schliess­lich das Kriterium der Bewährung mit weiteren 20%, aufgeschlüsselt mit je 20% auf die Unterkriterien Innovation, Design, Verwendung von SBB Standardbauteilen, Lieferanten Projekt Set-up und KVP Evaluation SBB-Lieferantin.

Vorläufiges Fazit:

Es stellt sich die rückblickend die Frage,

  • ob die Ausschreibungsunterlagen sorgfältig genug redigiert worden sind
  • ob richtige, d.h. in sich nicht widersprüchliche Anforderungen formuliert worden sind
  • ob die Offertevaluation aufgrund von richtigen Zuschlagskriterien und einer adäquaten Gewichtung erfolgt ist
  • ob die Lieferanten zu Konzessionen gedrängt worden sind, die sie zu übermässigen Einsparungen bei der Vertragsabwicklung gezwungen haben
  • ob die Ausschreibung einen Design-Freeze unmittelbar nach Vertragsabschluss ermöglicht, hat
  • ob der Anforderungskatalog aufgrund von Inkonsistenzen Anlass zu Änderungen gab
  • ob die Ausschreibungsunterlagen von Leuten mit der nötigen Expertise aufgestellt worden sind.

Diesen Fragen wollen wir in unseren kommenden Briefings nachgehen.

Das Resultat der Ausschreibung: der betriebsbereite FV_Dosto am 26.02.2018 im HB Zürich.

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