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Normen im Langzeitvertrag
Briefing 6/22

Zum Rampenentscheid des Bundesgerichtes – 
wer hat seinen Job nicht gemacht? 

Es ist unbestritten, dass alles unternommen werden muss, um das Los der Mitmenschen mit eingeschränkter Mobilität zu lindern. Dafür gibt es Vorschriften, Gesetze und Normen, die eigentlich selbstverständlich sind. Ein vertraglich im Detail ausgehandeltes Projekt kann aber durch unkalkulierbare oder interpretationsbedürftige Normen im Langzeitvertrag massiv behindert werden. Die Auseinandersetzungen um das behindertengerechte Fahrzeug im Fall FV_Dosto lassen am Ende einen schalen Nachgeschmack zurück. Jemand hat hier offenbar auf Kosten Benachteiligter seinen Job nicht erfüllt. Die Lieferantin ist dabei am besten positioniert, um den schwarzen Peter in Empfang zu nehmen. 

Wie war es möglich, erstens 2011, nach eingehender Prüfung eines 1:1-Modelles (Maquette) des Zuges durch die SBB, das BAV und die interessierten Organisationen, und zweitens 2013, nach einer ersten Gerichtsrunde mit den Behindertenverbänden über zwei Instanzen zu zwei Streitpunkten und drittens 2018, nach einer weiteren Gerichtsrunde dieser Verbände über zwei Instanzen zu 14 Streitpunkten, wovon die Neigung der Rampe im Vordergrund stand, derart massiv in ein detailliertes und verbindliches Vertragsverhältnis zu Lasten der Lieferantin einzugreifen? 

Pönalisierte Terminverpflichtungen im Langzeit-Werkvertrag werden zur reinen Fiktion, wenn die Planung und Umsetzung der Arbeiten durch unklare amtliche Verantwortlichkeiten (BAV, SBB), beliebige Eingriffsmöglichkeiten Dritter qua Verbandsbeschwerde, unklare nationale und internationale Vorschriften und zuletzt schwammige Verträge reglementiert werden. 

Welche Lehren sind aus diesem Debakel zu ziehen?


Ein Bild geht um die Bahnwelt

Man erinnert sich: ein Mensch mit eingeschränkter Mobilität versucht krampfhaft seinen Rollstuhl die steile Rampe hochzukriegen, um im Gegenverkehr der übrigen Passgiere das Perron zu erreichen und dies bei steilen Einstiegskanten und einer Türöffnungstaste, die nur schwer erreichbar ist. Das Bild ging durch die Schweizer Medien und wurde kommentarlos als weiterer Beleg eines geschei­terten Bahnprojektes zur Kenntnis genommen. 

Mit verheerenden Folgen: der Eingriff ins Design der Züge nach erfolgter Genehmigung des Pflichtenheftes und der Typenskizzen durch das Bundesamt für Verkehr schafft einen inakzeptablen Schwebezustand im Projekt, der ein vernünftiges Zuarbeiten verunmöglicht. Nicht nur die Lieferantin selbst ist betroffen, alle Zulieferanten und Mitarbeiter gleichermassen. Man muss sich vorstellen, wie motiviert am Bau der neuen Züge weitergearbeitet werden kann, wenn das Arbeitsresultat möglicherweise zurückgebaut oder entsorgt werden muss oder gar ein überjähriges Abwarten bis zum rechtskräftigen Endentscheid sinnvoller wäre. 

Wir versuchen nachstehend die wichtigsten Phasen der „Barrierefreiheit“ der FV_Dosto Züge nachzuzeichnen, dies mit speziellem Augenmerk auf die Rollen und Verantwortungen der Beteiligten im Projekt. 

Delta zwischen Pflichtenheft/Typenskizze und Anforderungskatalog der Behinderten

Wir erinnern uns: ein Werkliefervertrag mit definierter Leistung und Gegenleistung ist Grundlage der Planung und Umsetzung des Arbeitsresultates. Nicht nur Lieferantin und Bahnkunde sind Vertragspartner, auch Zulassungsämter im In- und Ausland bestimmen das Geschehen und v.a. auch Organisationen und Verbände, die sich – völlig zu Recht – für die Interessen von Menschen mit eingeschränkter Mobilität einsetzen. In der Schweiz ist dies neu die „Inclusion Handicap“, die sich aus den Vorgängerorganisationen „Integration Handicap“ und der „Stiftung zur Förderung einer behindertengerechten baulichen Umwelt“ zusammensetzen.

Aufgrund der gemachten Erfahrungen ist der Werkliefervertrag im Bahn-Langzeitprojet zu einer unzuverlässigen Grundlage der Arbeiten zurückgestuft worden. Einer Offerte der Lieferantin, die eine eigene „vollständige technische Beschreibung“ des Arbeitsresultates beinhaltet steht ein mit der Lieferantin „bereinigter Anforderungskatalog“ des Bahnkunden gegenüber, der Vorrang geniesst. Das von den Parteien verabschiedete Pflichtenheft mit Typenskizzen erhält sodann den behördlichen Segen des Bundesamtes für Verkehr, normalerweise mit Auflagen, die erneut Schwebezustände generieren. So verfügte das BAV u.a. am 12.01.2011, dass für die Typenzulassung die „behindertengerechte Gestaltung“ zu bestätigen sei und eine „Differenzbetrachtung“ TSI-PRM zur EBV und zur VAböV, d.h. zwischen europäischen und schweizerischen Normen vorzulegen sei.

Nachdem rückblickend 2011 mehrfach Maquettenbesichtigungen stattfanden mit der Möglichkeit, zum Design der Fahrzeuge Stellung zu nehmen, nachdem 2013 zwei vermeintliche Mängel nach Genehmigung des Pflichtenheftes und der Typenskizzen thematisiert und abgewiesen wurden, nachdem 2018 15 neue Mängel am fertig gebauten Zug angemeldet wurden, wovon 4 freiwillig umgesetzt und 11 abgewiesen wurden stellt sich mit Fug die Frage, wie inskünftig ein Flottenprojekt umgesetzt werden kann, damit die interessierten Organisationen ihre faktische Parteienstellung samt Verant­wortung für Verzug und Kosten zielführend wahrnehmen können.

Inventar der Mängel nach TSI-PRM, EBV, VAböV etc.

Im Zeitraum 2010 bis 2022 befassten sich die Parteien und interessierten Kreise, Ämter, Gutachter und Gerichte intensiv mit der Frage der behindertengerechten Ausgestaltung des Zuges. Sie benötigten über 12 Jahre vom Zeitpunkt der Ausschreibung bis zum Endentscheid des Bundes­gerichtes, um eine klare Antwort auf die Frage zu erhalten. Weder die interessierten Organisationen waren sich in der Modellphase des Zuges im Klaren, was sie fordern wollten und auf welcher gesetzlichen Grundlage – interessant wäre insbesondere die Frage, ob die umstrittene Rampe in dieser Phase bereits erkennbar war oder nicht –  noch die SBB, die den Kontakt zu den Behinderten­organisationen steuerten, noch das BAV, das mit seinem Entscheid vom 12.01.2012 den Entscheid über die behindertengerechte Ausgestaltung des Zuges an die Beteiligten zurückgab („Differenzbetrachtung zwischen TSI-PRM zur EBV und zur VAböV“). M.a.W. die Frage wie der Zug behindertengerecht zu bauen ist wurde auf unentschuldbare Weise während der ganzen Projekt­phase offengelassen. 

Nr.Art des MangelsRahmenDatumEndentscheid
1Stellungnahme zum 1:1 Modell des Zugesdiv. Begehungen2011unbekannt
2Keine Behinderten SonderzoneBeschwerde2012Abweisung
3Lift ins Oberdeck des SpeisewagensBeschwerde2012Abweisung
4Trennung Rollstuhlabteil – VerpflegungszoneBeschwerde2012freiwillig umgesetzt
5Neigung RampeBeschwerde2018Abweisung
6Abrundung SchiebetrittBeschwerde2018Abweisung
7Verlängerung TreppenhandlaufBeschwerde2018Abweisung
8Zusätzliche TüröffnungstasteBeschwerde2018Abweisung
9Kennzeichnung TüröffnungstasteBeschwerde2018Abweisung
10Akustische Findesignale TüröffnungstasteBeschwerde2018Abweisung
11Oberdeck, kontrastreiche BodenplattenBeschwerde2018freiwillig umgesetzt
12Oberdeck, Gepäckgestelle versetzenBeschwerde2018Verzicht Weiterzug
13Oberdeck, Versetzen HaltestangenBeschwerde2018Verzicht Weiterzug
14Zusätzlicher Haltegriff, WagenendeBeschwerde2018Abweisung
15Blendungswirkung BeleuchtungBeschwerde2018Abweisung
16WC, Ersatz Spiegel- durch DeckenbeleuchtungBeschwerde2018freiwillig umgesetzt
17Fahrzeugmonitore, entspiegelte AbdeckungenBeschwerde2018Abweisung
18Grössere Piktogramme, StandortBeschwerde2018freiwillig umgesetzt
19Leitsystem, taktile Schilder/MarkierungenBeschwerde2018freiwillig umgesetzt

Zur besseren Übersicht der spät erkannten Mängel aus Sicht der Behinderten nachstehend eine Tabelle mit Erklärungen:

Von den insgesamt 19 gerügten Eigenschaftes des Zuges wurden 17 gerichtlich ausgefochten, davon deren 4 freiwillig umgesetzt und bei zwei Eigenschaften auf einen Weiterzug verzichtet. Es blieben also 11 Eigenschaften des Zuges, die von den Beteiligten in der Designphase des Zuges weder als potenziell problematisch erkannt, geschweige denn gerügt wurden. 

Blick in die Maquette mit sichtbarem Eingangsbereich im Jahr 2011: wer hat hier den Job nicht gemacht, das BSV, die SBB oder die Behindertenorganisatonen? 

Was sagt der WLV?

Angesichts der Wichtigkeit einer behindertengerechten Ablieferung des Zuges erstaunt es, wie dünn die diesbezüglichen Anforderungen im einschlägigen Werkliefervertrag ausfallen.  Zunächst sind die gesetzlichen Grundlagen zu beachten, insbesondere die technischen Spezifikationen (Gesetzgeber, Normenorganisationen, technische Regeln SBB und UIC) und zwar zum Zeitpunkt des Vertragsab­schlusses. Insbesondere sind damit das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG, SR 151.3), die Ausführungsbestimmungen zur Eisenbahnverordnung (AB-EBV, SR 742.141.11) und Verordnung des UVEK über die technischen Anforderungen an die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VAböV, SR 151.342) gemeint und zusätzlich die im interoperablen internationalen Verkehr gültige TSI-PRM (Technische Spezifikation für die Interoperabilität – Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung und eingeschränkter Mobilität, EU Nr. 1300/2014).

Wer muss hier den Überblick bewahren, der Gesetzgeber, der Zugbauer und sein Kunde oder der Betroffene? Mit welchem Referenzwert wird in den gesetzlichen Grundlagen der Anspruch auf Barrierefreiheit festgelegt? Sind es nun 15% Neigung oder weniger? Wie behindert darf, muss der Referenzansprecher dieser Normen sein? Wo enden die Verpflichtungen, wo beginnen die unkontrollierten Anforderungen, wenn einerseits das Datum des Vertragsschlusses als Stichtag vereinbart wird (2010) und andrerseits neue offenbar legitime Forderungen erst 2018 artikuliert werden? In jedem Fall wird ein Produktions­prozess auch bei abgewiesenen Forderungen massiv gestört.

Fazit

Die Auseinandersetzungen mit den Behindertenverbänden bleiben am FV_Dosto haften. Es nützt nichts, verpassten Chancen nachzutrauern. Die vertragliche Verantwortung der Lieferantin ist zwar formell limitiert, sie muss sich auf den Stand der Gesetzgebung bei Vertragsabschluss, bzw. bei Einreichung der Offerte verlassen können. Wenn aber eine endgültige Einigung über Pflichtenheft und Typenbilder unter dem Vorbehalt neuer, zum Teil einschneidender Anforderungen an das Design steht wird jede Projektplanung und -realisierung zum Blindflug. Dies insbesondere auch, wenn zahlreiche Unterlieferanten und Subunternehmer von Designänderungen betroffen sind.

Judikatur

Bundesgericht, Entscheid 2C-380/2012 vom 22. Februar 2013
Bundesgericht Entscheid 2C-26/2019 vom 22. Dezember 2021

Anschrift des Verfassers:

Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur. 
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch

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