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Insieme – ein Beschaffungskrimi
Briefing 14/22

Gleich einem Vulkanausbruch sorgte anno 2010 das Projekt „Insieme“ für Schlagzeilen. Als „Debakel im Bundeshaus“ schlug der Abbruch dieses hochkomplexen IT-Projektes der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) mit einem Schaden von CHF 116 Mio. zu Lasten des Steuerzahlers zu Buche.  Hauptproblem damals: erst der dritte Projektleiter des Bundes war im Verlauf der 12-jährigen Insieme Geschichte seiner Aufgabe gewachsen. Sind die Lehren von damals auf fruchtbaren Boden künftiger Grossprojekte gefallen?

Insieme – Zuschlag ohne Vertrag

 Insieme gilt heute in der CH-Vergabepraxis als Inbegriff eines gescheiterten Beschaffungsprojektes.Es ging darum, zwei veraltete und missionskritische Applikationen der Eidgenössischen Steuerverwaltung zu modernisieren. Deren Systemsoftware lief auf einem veralteten Grossrechner der Firma Siemens und war nicht mehr in der Lage, modernen IT-Anforderungen gerecht zu werden.
Der Zuschlag über CHF 50M ging an die Firma Unisys im März 2006. Ein eigentlicher Vertrag liess hingegen bis im August 2007, d.h. 17 Monate auf sich warten. 2008 widerrief die Beschaffungsstelle den Vertrag und kehrte auf Feld Null zurück.

Medial fällt das Projekt in die Zeit eines nach der Abwahl von BR Christoph Blocher 2007 eher vergifteten politischen Klimas in der Schweiz. Insieme war denn auch eine der ersten grossen Herausforderungen der neu gewählten BR Eveline Widmer-Schlumpf, die 2008 das zuständige Finanzdepartement übernahm. Im Umfeld des Projektes wurden Unregelmässigkeiten entdeckt, die personelle Konsequenzen haben mussten. Die Medien stürzten sich auf diesen Fall und schlachteten ihn aus. Der Leiter der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) musste seinen Hut nehmen. Dem Lieferanten Unisys wurde eine ungesunde Kundennähe angelastet und mit zahlreichen Anekdoten geschmückt. Der Beschaffungsstelle und ihrem selbstherrlichen Leiter IT wurden Korruption und Verstösse gegen die Ausschreibungspflichten nachgewiesen, indem repetitive Freihandvergaben an den gleichen Lieferanten unter der Schwellenwertgrenze offenbar im ESTV Standard waren.

Mit einem Wort: die Entrüstung war gross, wie konnte so ein Debakel nur entstehen? Das Parlament schaltete sich ein und redigierte einen 368-seitigen Untersuchungsbericht einer parlamentarischen Arbeitsgruppe Insieme, (nachstehend „Bericht“),  der Gesetzgeber wurde aktiv und legiferierte 2006 die Org-VöB, ein Erlass, mit dem etwas Ordnung in die Kompetenz­konflikte der zentralen und dezentralen IT-Beschaffung des Bundes geschaffen werden sollte.

„Bau mir ein Luftschloss“

Der Untersuchungsbericht der Arbeitsgruppe Insieme zeigt folgendes auf:

  1. Komplexe IT-Beschaffungen neigen dazu, die Beschaffungsstelle zu überfordern. Sie ist ohne externes Knowhow weder in der Lage, den Inhalt und die Anforderungen der Beschaffung zu spezifizieren, geschweige denn, jenen Lieferanten zu selektieren, der die besten Voraussetzungen mitbringt, um ein Projekt zeitgerecht zu realisieren.
  2. Eine Überwälzung aller Risiken auf den Generalunternehmer nach der klassischen Besteller-Unternehmer-Rolle muss scheitern. M.a.W., ein passives Warten auf die Vollendung der Werklieferung blendet die unerlässlichen Kooperationspflichten des Bestellers in Langzeit­projekten weitgehend aus.
  3. Komplexe Projektorganisationen, die verschiedene Ämter des Bundes involvieren sind ebenso untauglich wie „in-house“-Organisationen, die aufgrund organisatorischer Nähe kein effizientes Controlling ermöglichen. Oft fehlt es auch an internem Fachwissen für effizientes Controlling. Die 2006 erstmals erlassene und mehrfach revidierte Org-VöB stellt wohl ein vernünftiges Raster für die zentrale und dezentrale Beschaffungs­praxis des Bundes dar, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit die Probleme keinesfalls gelöst sind.
  4. Die völlige Orientierungslosigkeit des Zuschlages an Unisys, die zu überjährigen, am Schluss gescheiterten Vertragsverhandlungen geführt hat zeigt drastisch, auf welch gefährlichem Terrain Beschaffungsstellen agieren, die nicht wissen was sie wollen. Sie begeben sich in die totale Abhängigkeit ihrer Lieferanten.
  5. Viel ist von Projektorganisation die Rede. Es wird berichtet, dass erst der dritte Projektleiter – mittlerweile war das Projekt in „Fiscal IT“ umgetauft worden – im Stande war, die Komplexität des Projektes zu begreifen und entsprechend zu führen. HERMES als viel gepriesene, zieltaugliche Methode ist dann kein Wunderding, wenn Ziele entweder unrealistisch sind oder gänzlich fehlen.
  6. Wenig ist im Bericht vom gescheiterten Werkliefervertrag mit dem Generalunternehmer Unisys die Rede. Im Gegensatz zur Praxis im Bahnwesen stand der Vertrag im Zeitpunkt des Zuschlages nicht fest, was verwundert. Wie kann ohne Klärung essentieller Vertragspunkte ein Zuschlag überhaupt erteilt werden? Wieso wurde nicht in einem ersten Schritt wenigstens ein Konzeptvertrag abgeschlossen, auf dessen Grundlage dann nach Erhalt detaillierter Spezifikationen der eigentliche Werkliefervertrag hätte unterzeichnet werden können?
  7. Insgesamt muss der über 367-seitige Bericht als erschreckend oberflächlich qualifiziert werden. Es fehlen, mangels Reporting und Archivierung, handfeste Untersuchungs­ergebnisse. Die Untersuchungskommission gibt selbst zu, ihren Job unter erschwerten Bedingungen angetreten zu haben (insbesondere in Bezug auf die Periode 2001-2007). Dennoch resultieren im Bericht über 22 Empfehlungen, die weitgehend Dinge beinhalten, die eigentlich selbstverständlich sind bzw. sein sollten. So ist die Rede von besserer Projekt­organisation, Sicherstellung von Wissenstransfer, Durchsetzung von Beschaffungsnormen, besserem Risikomanagement, besserer Überwachung der Umsetzungspendenzen, abgestimmtes Projektcontrolling durch die verschiedenen Instanzen (Departement, Bundesrat, Eidg. Finanzkontrolle etc.), usw., alles Dinge, die eigentlich schon der gesunde Menschenverstand gebietet.

Der Faktor Mensch («Fordern und Fluchen»)

Der Generalsekretär des EFD (1996–2007), dem im Rahmen des Projektes eine wichtige Führungs­aufgabe zukam erwähnt im Bericht seine Aufgabe gegenüber dem BIT sei es, «zu fluchen und zu fordern». Das BIT als zentrale IT-Stelle des Bundes war von Anfang an in das Departements-übergreifende Projekt involviert. Es wird berichtet, dass der WLV mit Unisys v.a. auch wegen divergierender Interessen des BIT nicht zustande kam. Aus der Aussage des Generalsekretärs ist zu entnehmen, dass die so wichtige menschliche Komponente der Projektführung von Anfang an litt. Der Vorsteher der ESTV nahm davon wenig Notiz.

Aus der Feder dieses Beamten stammt denn auch der der EFD-interne Untersuchungsbericht vom 13. Juni 2012, der dem Projekt letztendlich den Todesstoss gab und personelle sowie strafrechtliche Konsequenzen nach sich zog. Das beschaffungsrechtliche Sündenregister bezog sich primär auf zerstückelte Aufträge, um Schwellenwerte zu umgehen sowie auf zahllose Freihandvergaben, die den Verdacht unguter Kundennähe aufkommen liessen.

Der abgesetzte Direktor ESTV fungierte als Sündenbock, der inkriminierte Leiter Leistungsbezug Informatik ESTV als Täter, die Zäsur mit einem Neuanfang unter neuer Projektbezeichnung als Ausdruck von Führungsstärke der neuen Departementsleitung. Die EFD Administrativuntersuchung, der AGI-Bericht der Geschäftsprüfungs­kommission, die Lex Insieme, mit der nun jeder Beschaffungsvertrag des Bundes zentral zu erfassen ist, zeugen vom Lernprozess der politischen Instanzen. Man wird aber den Eindruck nicht los, dass es sich v.a. um gegenseitiges «Cleanwashing» handelt, um Berichte und Untersuchungen, die an den wahren Problemen vorbeigehen: an der grenzenlosen Überforderung der Beschaffungsstellen bei komplexen Beschaffungen, und an den projektimmanenten Rahmenbedingungen, die komplexe Projekte schaffen. So steht erstens die aus Insieme folgende strikte Handhabung der Ausschreibungspflicht von Nachträgen, d.h. von Projekterweiterungen, zusätzlichen Leistungen, geänderten Anforderungen etc. mit dem Gebot eines friktionslosen, kontinuierlichen Projektverlaufes in Widerspruch. Es macht keinen Sinn, aus beschaffungsrechtlichen Regeln den teureren bisherigen Lieferanten auszuwechseln, damit sich der billigere neue Lieferant zunächst mühsam in seine Aufgabe einarbeiten muss. Sodann zeugt zweitens die im Strafverfahren gegen den Leiter Leistungsbezug Informatik ESTV aufgeführte Inkriminierung jeglicher freundschaftlicher, informeller Kontakte von einem weltfremden Projektverständnis. Verantwortliche beider Vertragsparteien sollen, ja müssen auf allen Ebenen funktionierende, informelle und  «menschliche» Kontakte haben, damit das Projekt zum Erfolg wird.  Das minutiöse Auflisten aller Einladungen, zum Teil zu lächerlichen Beträgen, die dem inkriminierten Leiter zu Teil wurden, erfüllen zwar streng genommen der Tatbestand der aktiven Bestechung, zeugen aber möglicherweise auch vom aktiven Bemühen der Beteiligten, das Projekt mit gemeinsamen Kräften zum Erfolg zu führen. Wäre die Entrüstung gleich gross gewesen, wenn die Einladungen transparent und gegenseitig gewesen wären?

Fachkontakte sind gut, persönliche Kontakte besser

Im Nachgang zum Informatikdebakel Insieme wurden zahllose Stimmen zum Thema bessere Projektführung laut, zuletzt in der NZZ vom 29. Juli 2022. Im Nachhinein ist es einfach, gute Ratschläge zu geben und Führungsschwäche anzuprangern.  Neben allen gut gemeinten Ratschlägen gibt es m.E. eine weitere Massnahme, die komplexen Projekten gut anstehen würde: anerkennen, dass komplexe Langzeitprojekte zwingend Kooperationscharakter aufweisen müssen, um erfolgreich zu sein. Dem stehen kleinliche Ethikregeln bezüglich passiver Bestechung diametral im Weg. Aus meiner persönlichen Erfahrung im Grossprojekt FV-Dosto weiss ich zu berichten, dass jeder Versuch, die menschliche Komponente ins Projekt einzubringen von Anfang an abgeblockt wurde. So schien ein Versuch den Zuschlag unter Kollegen des Rechtsdienstes im «Chlötzlichäller» zu Bern angemessen zu feiern und auf eine gute Zusammenarbeit im Projekt anzustossen zunächst zu scheitern, wurde dann aber von der SBB-Ethikabteilung doch noch zähneknirschend genehmigt. Statt Gemeinsamkeiten zu suchen, wurde damals schon der Grundstein für eine schwierige Zusammenarbeit unter Juristen im Projekt gelegt.  Meine Meinung, dass in Langzeitprojekten alle Funktionen unabhängig von Hierarchie und Typus einen persönlichen Draht aufbauen müssen, damit das Projekt zum Erfolg wird wurde nicht ernst genommen und ins Reich der Träume verbannt. Eine Folge falsch verstandener Distanzierung im Projekt, eine Spätfolge von Insieme. 

Anschrift des Verfassers:

Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch