«Gesetze sind wie Würste, man soll lieber nicht dabei sein, wenn sie entstehen.» Dieser Spruch von Otto von Bismarck lässt sich im übertragenen Sinne auch auf das nunmehr 15-jährige Beschaffungsprojekt FV-Dosto übertragen. Einer Gesetzmässigkeit gleich dient das gescheiterte Projekt FV-Dosto als Ausrede für Versäumnisse und Fehlentscheidungen der SBB bei ihrer Beschaffungspolitik und als Lückenbüsser für Fehlplanungen bei der strategischen Ausrichtung der Infrastruktur und deren finanzielle Folgen. So erwähnt Vincent Ducrot die 1000 (!) Änderungen am Anforderungskatalog FV-Dosto in einem Nebensatz[1], ohne auf den Umstand aufgezwungener, unrealistischer Anforderungen einzugehen, für die SBB allein verantwortlich zeichnet. Auch die schockierenden 14 Mrd. CHF, die nun zu den bewilligten 16 Mrd. CHF für den dringenden Ausbau der Infrastruktur notwendig werden, werden wie eine ungeschriebene Gesetzmässigkeit dem Projekt FV-Dosto zur Last gelegt, zumindest teilweise.[2] Der nicht näher belegte und nach unserer Auffassung zu vorschnelle Verzicht auf die WAKO-Technologie mit schnelleren Fahrten in Kurven löst nun als Ersatz Infrastrukturausbauten und Änderungen am Rollmaterial aus, deren finanzielle Folgen noch nicht abschliessend abgeschätzt werden können.
Verzicht auf WAKO – ein vorschneller Entscheid
Das Bundesamt für Verkehr (BAV) wurde scheinbar beim Verzicht auf WAKO nicht involviert. Christa Hofstettler, Direktorin BAV bezeichnet diesen Entscheid entsprechend als einen solchen, «den die SBB unternehmerisch verantworten müssen».[3] Und dies mit gutem Grund: der Entscheid erfolgte kaum auf der Grundlage transparenter Daten und Fakten.
Nach wie vor fehlen:
- Vergleichende, statistisch repräsentative Erhebungen über den Fahrkomfort des FV-Dosto, insbesondere im Vergleich zu anderen Doppelstöckern der SBB (RegioDosto, RABe511, RABe512, IC2000) bzw. anderen Neigezügen (ICN), und zwar Erhebungen auf gleichen Trassen, v.a. auch bei Ein- und Ausfahrten in und aus Bahnhöfen mit zahllosen Weichen, bei gleichen Geschwindigkeiten (150-200 km/h), in Kurven wie auf geraden Strecken, bei gleicher Belegung bzw. an gleichen Positionen im Zug, im Unterdeck wie im Oberdeck, zudem muss ein FV-Dosto-16 Teiler mit einem RABe512 16-Teiler verglichen werden und nicht mit einem RABe511 8-Teiler.
- Spezifische Messungen des Fahrkomforts je Wagen der FV-Dosto Flotte, nachdem aufgrund gut unterrichteter Kreise ein ungenügendes Komfortverhalten nicht integral bei sämtlichen Fahrzeugen der Flotte nachweisbar ist.[4]
- Genaue Angaben über die effektiven Kosten des WAKO-Verzichts – d.h. genaue Angaben über die Infrastruktur-Ersatzinvestitonen, die für den hinfälligen WAKO-Zeitgewinn nötig werden, unter Berücksichtigung der Investitionen in das bogenschnelle Fahren, auf die die SBB nun verzichten kann; die nunmehr zur Verfügung stehenden aufgestockten CHF 30 Mrd. des Bahninfrastrukturfonds betreffen u.E. weitgehend andere Infrastrukturprojekte.
- eine Kosten-Nutzen-Analyse des Drehgestellersatzes unter Berücksichtigung von anderen Sekundärrisiken und der effektiv erzielbaren, d.h. garantierten Steigerung des Fahrkomforts.
- PM. WAKO hätte gemäss damaligen Visionen CHF 1 Mrd. an Bahn-Infrastruktur–ausbauten verhindern sollen.[5]
WAKO wiedererwägen – eine Alternative?
Gegenwärtig zirkulieren die Fahrzeuge der FV-Dosto Flotte mit WAKO-Drehgestellen, wobei allerdings auf kurvenschnelles Fahren verzichtet wird. Mit Softwareanpassungen und veränderten Radsatzprofilen konnte der Fahrkomfort verbessert werden. Heute ist dieser kaum mehr ein Thema, weder beim Fahrpersonal noch beim Publikum. Es stellt sich somit die Frage, ob sich der Verzicht auf WAKO aus heutiger Sicht rechtfertigen lässt, zumal die Ersatzinvestitonen für die Etablierung des Stundentaktes zwischen Bern und Lausanne nicht wirklich beziffert sind. Wäre es nicht naheliegender, die geringen Einbussen beim Fahrkomfort gegen die übrigen Vorteile der Wankkompensation abzuwägen und realistisch zu gewichten?
Zumal man sich der Unsicherheiten bzgl. Laufruhe bei Neigezügen aufgrund gemachter Erfahrungen mit dem ICN im Zeitpunkt der Ausschreibung durchaus bewusst war:
Lokomotiv-betriebene Züge weisen punkto Laufruhe im Vergleich zu Triebzügen immer Vorteile auf. So verfügen erstere über symmetrische Wagen und in der Regel zwei Drehgestelle mit gleichen oder sehr ähnlichen Massen, Feder- und Dämpfungseigenschaften im gleichen Wagen. Lokomotiv-betriebene Züge verursachen sodann keine traktionsbedingten Geräuschimmissionen und Vibrationen im Wagen im Gegensatz zu Triebzügen, wo jedes Drehgestell motorisiert ist. Schliesslich führen die Seitenpuffer an den Kuppelstellen der Einzelwagen zu einer zusätzlichen Dämpfungswirkung, die bei Triebzügen fehlt. [6]
Ohne Rücksicht auf diese Einschränkungen beim Fahrkomfort wurde WAKO bei dessen Begutachtung als Innovation gefeiert. Im erklärenden Video des Herstellers wird WAKO folgendermassen beschrieben:
Ausgangspunkt ist die Integration von WAKO in ein herkömmliches Fahrwerk (z.B. Doppelstockwagen IC2000). Die Standardkastenfederung besitzt zwei Wankstabilisatoren, welche aus einem Torsionsstab, sowie zwei senkrecht angeordneten Lenken besteht. WAKO beruht auf einer Anpassung der Wankstabilisatorgeometrie, sowie einer Steifigkeit der Lagerung. Die Schrägstellung der Drehstangen erzeugt dabei einen virtuellen Drehpunkt, der Wagenkasten dreht sich zwangsweise um diesen Punkt. Indem der Drehpunkt oberhalb des Schwerpunktes zu liegen kommt, entsteht eine natürliche Pendelbewegung, d.h. eine begrenzte natürliche Kompensation der Wankbewegung. Zur Unterstützung wird ein elektrohydraulischer Antrieb eingesetzt, es resultiert ein ausfallsicheres Verhalten («fail-save»), der automatische Fahrdrahtkontakt des Pantographen wird garantiert, gleichzeitig bietet WAKO ein Redundanzkonzept und verhindert betriebliche Einschränkungen.[7]
Natürliche Pendelbewegung, Wankbewegung, den Beteiligten war von Anfang an klar, dass Abstriche beim Fahrkomfort zu erwarten sind. Ebenso klar war auch, dass andrerseits mit WAKO der geforderte Zeitgewinn zwischen Bern und Lausanne erzielbar ist, dass mit der ARS-Option die Gleisunterhaltskosten erheblich reduziert werden und dass die «fail-save» Funktion von WAKO punkto Sicherheit in Betrieb und Redundanz Vorteile aufweist. Bereits im Jahr 2011 konnten erste Fahrversuche mit Prototypdrehgestellen im Erprobungsträger erfolgreich abgeschlossen werden.[8]
Hat man nun den Fahrkomfort gegenüber diesen Vorteilen von WAKO leichtfertig überbewertet? Wenn es zutrifft, dass, wie aus gut unterrichteten Quellen bekannt ist, nur ein geringer Teil der Fahrzeuge schlechte Noten beim Fahrkomfort erhält, ist es dann vertretbar, die Innovation WAKO grossflächig auszumustern? Wäre es nicht angemessener, diese einzelnen Fahrzeuge genauer zu untersuchen und, soweit sinnvoll und möglich Radsatzpofile erneut auszutauschen und allfällige weitere Softwarefehler zu beseitigen, um diese Fahrzeuge auf den gleichen Stand zu bringen wie die restlichen Fahrzeuge.
Fazit somit: Das fliehkraftbedingte Wanken des Zuges kann durch die Neigung des Wagenkastens «bogeninnen» nicht vollständig ausgeglichen werden. Abstriche beim Fahrkomfort, wenngleich auch nur geringfügige und über den ganzen Zug verteilte, sind je nach Trassen, Geschwindigkeit und Belegung unterschiedlich und deshalb hinzunehmen.
Statt auf WAKO leichtfertig zu verzichten und teure Ersatzinvestitionen beim Fahrzeug und dem Ausbau der Infrastruktur in Kauf zu nehmen wäre zuerst eine saubere Kosten-Nutzen-Analyse zu fordern. Was kostet der Verzicht auf WAKO wirklich bei der Infrastruktur, bei den Fahrzeugen, bei Sicherheit, Unterhalt und Redundanz der Systeme?
Welche Technologie besitzt nur Vorteile, ist man geneigt zu fragen?
Antwort: keine.
Seengen, 20.01.2025
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch
[1] «Im Nachhinein war es ein Fehler, dass wir mit dem FV-Dosto zu viel wollten. Dazu stehe ich. Den Zug, den wir bekommen haben, ist nicht der Zug, den wir bestellt haben. Es gab nachträglich über tausend Anpassungen.» Dies ist ein Eingeständnis für einen erzwungenen, unrealistischen Anforderungskatalog, für dessen Stipulierung und nachträgliche Anpassung an das Machbare primär die SBB zuständig und verantwortlich ist., NZZ, 27.12.2024
[2] AZ, 29.11.2024, S.11
[3] SRF Samstagsrundschau, 30.11.2024
[4] Aufgrund gut unterrichteter Quellen zeigen nur eine verschwindende Zahl von Fahrzeugen ein auffälliges Verhalten. 90% der Fahrzeuge laufen ohne Beanstandungen. Anders wäre die hohe Verfügbarkeit der FV-Dosto Flotte nicht begründbar (Quelle dem Verfasser bekannt).
[5] NZZ, 28.11.2024, S. 9
[6] EBR, 8-9/22, S. 408
[7] https://railoeb.ch/wp-content/uploads/2022/09/WAKO_3Mbit.mpg
[8] https://www.schienenfahrzeugtagung.at/download/PDF2011/10-Schneider_Grossenbacher.pdf