Leistung und Gegenleistung sollten im Idealfall gleichzeitig, «Zug um Zug» erfolgen, gehörig erfüllt und korrekt entschädigt werden. Eine Partei, die in Vorleistung geht, sollte unverzüglich entschädigt werden. Die projektierten Termine entsprechen dem einvernehmlich vereinbarten Projektplan und sind einzuhalten. Der Grundsatz «Do ut des – ich gebe, damit du gibst» sollte das Vertragsverhältnis abschliessend beherrschen. Leider sieht die Praxis anders aus. Der projektierte Verlauf eines Langzeitprojektes wird verbindlich festgelegt, d.h. im WLV verankert, der effektive Verlauf weicht dagegen oft drastisch davon ab. Es stellt sich die Frage, ob in einem von Störungen und Leistungsänderungen bestimmten Projekt dieser Grundsatz am Ende ins Gegenteil verkehrt wird. «Do ut not des» «Ich gebe, damit du nicht gibst». Das Beispiel FV-Dosto zeugt davon.
Grundlage: die projektierte, fiktive Erfüllung
Flotten werden von der SBB im Generalunternehmervertrag zu festen Preisen und Terminen bestellt. So weit, so gut. Das Interesse der SBB, bestelltes Rollmaterial termingerecht nutzen zu können ist begründet. Hinter dem Einsatz neuer Flotten stehen zahlreiche personelle und technische Umstellungen, so die Planung und Einführung neuer Fahrpläne und die termingerechte Ausbildung beteiligter Lokführer und Wartungstechniker. Verzögerungen in der Auslieferung, Übernahme und Abnahme von neuem Rollmaterial sind deshalb mehr als unerwünscht, weil sie mit teuren Leerläufen einhergehen. Bei Verzögerungen werden deshalb Geldströme blockiert und finanzielle Sanktionen verhängt. Fehlende Liquidität, Folgerisiken und wachsende Anforderungen an das Projektmanagement stellen aber auch den Generalunternehmer vor grösste Herausforderungen. Nicht voraussehbare inflationäre oder monetäre Entwicklungen bergen zusätzliche Risiken.
Geldfluss – SBB-Standard
Der projektierte vertragliche Geldfluss in einem Projekt wie «FV-Dosto» präsentiert sich wie folgt und dürfte wohl auch heute noch als SBB-Standard gelten:[1]
- Einmalkosten als Pauschalpreise (keine Indexierung), die rund 16 Kostenkomponenten der Flotte abdecken, wie z.B. Kosten für handelsübliche Werkzeuge, Kosten für Versuchsfahrten, Kosten für die Erarbeitung der Dokumentation, Kosten für Escrow u.a.m., zahlbar zu 50% bei Vertragsabschlussund zu 50% bei Typenzulassung des 1. Fahrzeuges aller Zugtypen (im Fall von FV-Dosto IC200, IR200, IR100)
- Serienkosten als Globalpreise (mit Indexierung, positive und negative): 15% des Totals der Serienpreise aller Fahrzeuge bei Vertragsabschluss; danach je 10% des Serienpreises des 1. bzw. jeweiligen Fahrzeuges, nach Freigabe des ersten bzw. jeweiligen Rohbauwagenkastens, später 60% des Serienpreises des 1. bzw. jeweiligen Fahrzeuges bei Übernahme des Fahrzeuges und 10% des 1. bzw. jeweiligen Fahrzeuges bei Abnahme des Fahrzeuges (jeweils ohne Wankkompensation)
- Restliche Zahlungen der Serienpreise nach Abnahmen mit Wankkompensation (diese erfolgten nie, weil auf einen Einsatz mit Wankkompensation verzichtet wurde)
- abzüglich – qua Verrechnung – allfällige Vertragsstrafen bei Verzug: 0,5% des Serienpreises des Fahrzeuges pro Verfalltag bei Lieferverzug, plafoniert auf 20%, sowie 0,5% des Serienpreises des Fahrzeuges pro Verfalltag bei Abnahmeverzug, plafoniert auf 5% des Serienpreises des Fahrzeuges, im «worst case» also 25% des Totals sämtlicher Serienpreise als Vertragsstrafen bei Liefer- und Abnahmeverzug des Fahrzeuges, also Preisnachlass von einem Viertel!
- abzüglich – qua Verrechnung – allfällige Vertragsstrafen bei Reduzierung von zugesicherten Sitzplätzen, bei Überschreitung der Masse sowie bei Nichteinhaltung von spezifischen Meilensteinen (insgesamt 24 Meilensteine)[2], zuzüglich eventueller Boni bei Übererfüllung spezifischer Meilensteine in der Entwicklung und im Bau (kaum erfüllbar).
Auf einen Blick fällt auf: die Zahlungsmodalitäten im SBB-Rollmaterial-Langzeitprojekt sind kompliziert, bürokratisch, hoch volatil, auslegungsbedürftig und deshalb Gift für eine halbwegs zuverlässige Finanz- und Liquiditätsplanung des Lieferanten. Ausser dem unbestreitbaren und sauber datierbaren Ereignis «Vertragsabschluss», sind alle übrigen Zahlungs-Meilensteine subjektiv-interpretatorischer Natur und insofern oft Grund für kostspielige Auseinandersetzungen.
Der Teilnehmer einer Ausschreibung für eine neue SBB-Flotte investiert zunächst in die Ausarbeitung eines Angebotes. Zwischen der Publikation der Ausschreibung und der Einreichung des vollständigen Angebotes vergehen Monate, wenn nicht Jahre. In dieser wichtigen Phase arbeiten die Anbieter fieberhaft an technischen, regulatorischen, finanziellen und rechtlichen Fragen des Angebotes. Je komplexer das Projekt – man denke z.B. an die zwingenden Anforderungen des Pflichtenheftes und die oft schwierige technische, finanzielle und vertragliche Gewichtung von Risiken – umso aufwendiger sind die Netzwerke innerhalb und ausserhalb des Unternehmens, die für entsprechende Evaluationen nötig sind. Anbieter geraten schnell an ihre Grenzen und müssen Restrisiken blind in Kauf nehmen, auch aus Kostengründen, verschlingen doch Angebote für neue Rollmaterialflotten gut und gerne Beträge von über einer Mio. CHF.[3]
Das Angebot wird nicht entschädigt, d.h. der unterlegene Anbieter investiert à-fonds-perdu, sollte er beim Zuschlag nicht berücksichtigt werden. Dieses Risiko nimmt er in Kauf, auch wenn er nicht mit den besten Chancen auf den Zuschlag rechnen kann. Allein die Teilnahme an einer Ausschreibung kann schon mit Prestige und Imagegewinn verbunden sein. Die SBB wird in jedem Fall eine Vielzahl von Angeboten trotz eigenem Mehraufwand willkommen heissen, da sie sonst bei nur einem Angebot nach dem «friss oder stirb»-Ansatz zuschlagen muss, was ihrer Forderungshaltung abträglich ist.[4]
Die hohe millionenschwere Vorabinvestition des Zuschlagsempfängers rechtfertigt natürlich, dass bei Zuschlag bzw. bei Vertragsabschluss eine Einmalzahlung der SBB fällig wird. Sie bewegt sich i.d.R. bei 50% der Einmalkosten sowie 15% der Summe aller Serienpreise, d.h. im Fall des FV-Dosto bei grob geschätzt ca. CHF 300 Mio. Dieser grosszügige Betrag deckt nun wesentlich mehr als die aufgelaufenen Kosten der Offertstellung, er entschädigt sämtliche Kosten, die mit dem Projektlounch verbunden sind, so die Lohnkosten einer dedizierten Projektorganisation, Vorauszahlungen, die analog im Verhältnis zu Sub–unternehmern anfallen, projektspezifische Investitionen in Anlagen, F&E wie z.B. WAKO u.v.a.m.
Die Zahlungen an den übrigen Meilensteinen erfordern im Gegensatz zu den Zahlungen bei Vertragsabschluss eine konsensuale Einigung der Parteien über die Erreichung des spezifischen Meilensteines. Die ist oft schwierig hinzubekommen. Wann ist z.B. ein Rohwagenkasten bereit für die «Freigabe», wann kann ein Fahrzeug «übernommen» oder «abgenommen» werden? Welche Mängel kann man als geringfügig oder eben als «wesentlich» einstufen, wie verhält es sich mit der «provisorischen Dokumentation», wann hat sie diesen Level von Detaillierung erreicht? Und wie verhält es sich mit Ereignissen, die von Dritten wie Zulassungsbehörden kontrolliert werden, wie die Typenprüfung, die provisorische Betriebsbewilligung, die definitive Betriebsbewilligung? Haftet der Lieferant für Versäumnisse Dritter?
Die vertraglich verankerten Verfallstermine werden aus dieser Optik zur «Landeslotterie» ersten Ranges, handelt es sich doch im Fall des FV-Dosto um insgesamt 118 Liefertermine (59 Fahrzeuge à je 1 Übernahme- und Abnahmetermin) zuzüglich mindestens 24 Meilensteinterminen aller Art, insgesamt also um 142 Verfalltermine, die zwar vertraglich akzeptiert bzw. oktroyiert worden sind, deren zielsicheres Eintreten aber einerseits Risikobereitschaft und andrerseits Wohlwollen, Kooperationsbereitschaft und Goodwill voraussetzt. Sind Fronten verhärtet, sorgen zudem indirekt Beteiligte wie Stakeholders und Medien für Unruhe, die Chancen für eine zielsichere Terminwahrung sinken rasant.
Mit einem Wort: die Geldströme im Rollmaterial-Normalprojekt erfolgen nach dem Grundsatz «Ich gebe damit du gibst», gleichzeitig hindert die Abweichung der tatsächlichen von einer fiktiven Projektentwicklung die notwendige Kooperationsbereitschaft der Parteien. 142 Termine, die bei Strafe eingehalten werden müssen, einerseits, eine Projektwirklichkeit mit 1000 Änderungen am Leistungsverzeichnis, unvorhergesehenen Konfrontationen mit Dritten (Behindertenverbände, Zulassungsstellen, Medien), andrerseits aber auch mit Subunternehmern, die im Reflex durch die Verzögerungen geschädigt werden, ist dieser Kooperationsbereitschaft abträglich. Ein allzu rigider Projektentwurf, der diese Konsequenz nicht antizipiert ist zum Scheitern verurteilt. Ein vertraglich vertrauensvolles «Geben und Nehmen» mutiert dann zu einem vertraglichen gegenseitigen «Wegnehmen» oder eben zu einem «Do ut not des»!
Finanzielle Risiken bei Verzug
Überschreitet der Hersteller verzugsbegründende Termine bleiben ihm nur zwei Optionen: er kann entweder versuchen, die Ursachen der Terminüberschreitung der SBB selbst oder Dritten, für die er nicht haftet, zuweisen. Für termingerechtes Verhalten seiner Subunternehmer oder in- und ausländischen Zulassungsbehörden muss er jedoch von Anfang an einstehen, es sei denn ein sogenannter «Change of Law», eine Änderung des regulatorischen Umfeldes nach Vertragsabschluss stünde im Raum.
Da es sich bei Pönalen um substanzielle Beträge handelt wird der Hersteller wohl zunächst die erste Option prüfen. Er wird sich damit sicher bei Klagen Dritter gegen Design und Konstruktion wie im Fall zweier Beschwerden der Behindertenverbände, insbesondere gegen das erste Konzept des FV-Dosto Speisewagens und die Neigung der Ausstiegsrampe entsprechend exkulpieren können. Bei Fragen technischer Natur wie z.B. Fristerstreckungs–ansprüchen infolge von Leistungsänderungen oder bei Kontroversen vertraglicher Natur, wie z.B. der Frage, ob Meilensteinpönalen einmalig oder wiederkehrend zu bezahlen sind [5], ist Konfrontation vorprogrammiert. Hier spielen die «soft factors» der beteiligen Projektmitarbeiter die entscheidende Rolle. Der Wille zur Leistung einerseits darf nicht unterminiert werden, die unternehmerische Weitsicht darf nicht vernachlässigt werden. Juristisches Primat ist in dieser Phase Gift.
Speziell: Inflations- und Währungsrisiken, Konkursrisiken
Serienpreise sind Globalpreise, die im Rahmen des Terminplanes der positiven und negativen Teuerung unterliegen. Dies war in früheren Beschaffungen nicht der Fall.[6] Man attestierte vor allem dem Hersteller ein Recht, seine Serienpreise inflationsbedingt nach oben anzupassen, eine Anpassung der Preise nach unten infolge deflationärer Tendenzen der Beschaffung wurde vermutlich infolge unsicherer negativer Preiselastizität von Rollmaterialkomponenten fairerweise ausgeklammert.
Währungsrisiken können durch ein sogenanntes «Hedging» neutralisiert werden. Der Hersteller sichert sich damit gegen Währungsschwankungen des Schweizerfrankens gegenüber fremden Währungen in Produktionsländern ab, die nach Vertragsschuss eintreten könnten. Inflationäre Risiken stattdessen werden mittels Lohn- und Preisindices abgefangen, wobei der Wahl des entsprechenden, allerdings unverhandelbaren Indexes grösste Beachtung zukommt. Erfolgt die Produktion weitgehend im Ausland sind CH-Preis- und Lohnindices kaum relevant, im umgekehrten Fall auch. Es kann eine Teuerung in der CH einsetzen, wo das Projektmanagement sitzt, im Ausland, wo produziert wird und Lohn- und Materialkosten anfallen aber nicht und umgekehrt. Ob am Ende der Hersteller oder die SBB angemessen für die Teuerung bzw. für Einsparungen entschädigt werden hängt wiederum vom Zufall oder von der Formulierung der entsprechenden Klausel ab. Sachfremd ist auf jeden Fall eine Klausel, die die effektiven inflationären Auswirkungen auf die Produktion in ihr Gegenteil verkehrt: Teuerung im Ausland, Deflation im Inland, sinkende CH-Preisindices bei gestiegenen Produktionskosten im Ausland und deshalb Senkung der Serienpreise! Diese aleatorische Regelung gehört ebenso ins Thema der erzwungenen Landeslotterie, die wenig mit dem eingangs erwähnten Grundsatz zu tun hat. Sie ist vielmehr Ergebnis einer erzwungenen, leistungsfremden Vertragsgestaltung der SBB-Kautelarjuristen.
Zum Schluss noch ein Wort zu Bankgarantien. Das Rollmaterial-Langzeitprojekt sieht Anzahlungs- und Gewährleistungsgarantien vor, die «on first demand», also ohne weiteres beim jeweiligen Bankinstitut geltend gemacht werden können. Anzahlungsgarantien sichern Leistungsansprüche vor Abnahme, Gewährleistungsgarantien solche nach Abnahme. In einem Projekt wie FV-Dosto mit insgesamt 118 Übernahme- bzw. Abnahmeterminen zuzüglich weiterer Anzahlungen entsteht ein bürokratisches Monstrum von Bonds, die allesamt nach Vorgaben formuliert werden müssen, beim der SBB genehmen Bankinstitut hinterlegt und genehmigt werden müssen und weitere formelle Vorgaben erfüllen müssen. Ein Riesenaufwand, eine Drohkulisse, die allerdings als «ultima ratio» nie wirklich umgesetzt wird, weil sie mit dem Projektabbruch gleichzusetzen wäre. Ein Setup, der zwar im Beschaffungsrecht vorgesehen ist, dessen praktische Auswirkungen aber kaum der Rede wert sind.
Fazit
Der Gewinner des Langzeitprojektes «Zürcher S-Bahn» wird sich mit dem Problem vertraglich terminierter und tatsächlicher Geldströme im Langzeitprojekt auseinandersetzen müssen. Ein ausgewogenes «Do ut des» liegt dem Vertrag vermutlich zu Grunde. Weichen die vertraglichen von den effektiven Geldströmen indessen zu Lasten der Herstellerkollektive ab, selbstverschuldet durch ausbleibende Leistung oder aber mit- oder drittverschuldet durch Beteiligte kann sich dieses wichtige Austauschprinzip nicht halten. Ressourcen, die für das gute Gelingen des Projektes wichtig wären, verschwenden Energie in technischer Ursachenforschung, Rechtfertigungen und rechtlichen Auseinandersetzungen. Das Prinzip «Ich gebe, damit du gibst» wird in sein Gegenteil verkehrt. Der Geldfluss beginnt wie ein defekter Wasserhahn zu tropfen oder gar zu vereisen.
Seengen, 01.04.2025
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch
[1] Leider blieb mir der Zugriff auf den aktuellen Entwurf WLV des Projektes «Zürcher S-Bahnen» verwehrt, auch nach nochmaliger Anfrage blieb mein Anliegen erfolglos. Der entworfene WLV scheint eines der bestgehüteten SBB-Geheimnisse von Rollmaterialausschreibungen zu sein, wohl zu Recht.
[2] Im Projekt war umstritten ob diese Konventionalstrafen einmalig oder monatlich (ohne Cap) zu begleichen waren, ein horrender Anspruch der SBB, der sich rechtlich nicht begründen liess und eine anmassende Anspruchshaltung zum Ausdruck brachte.
[3] Im Projekt FV-Dosto wurde dieser Betrag deutlich überschritten, insbesondere weil eine überaus komplexe Ausschreibung mit zahlreichen Varianten und über 100 Preisstellungen abgedeckt werden musste, viele Standorte im In- und Ausland am Angebot beteiligt waren, über 40 Subunternehmer in den Angebotsprozess involviert waren und schliesslich die abschliessende Governance des Projektes im fernen Kanada stattfand.
[4] Im Projekt FV-Dosto, der damals grössten Beschaffung der SBB haben neben Bombardier immerhin noch Siemens und Stadler angeboten und die hohen Kosten des Angebotes in Kauf genommen. Ob das bei der nun laufenden Ausschreibung «Zürcher S-Bahn» auch der Fall sein wird bleibt abzuwarten. Sind die Rahmenbedingungen gleich wie im Projekt FV-Dosto ist nicht damit zu rechnen, d.h. ein freihändiger Zuschlag wäre dann unvermeidbar.
[5] Diese Frage wurde im Projekt FV-Dosto
[6] So in der Beschaffung RegioDosto/NDW, im Jahr 2007