Die SBB werden mit den Grenzen des Wachstums konfrontiert. Die von ex-Chef Benedikt Weibel angestossene Debatte um milliardenschwere Fehlplanungen[1] ist noch nicht verstummt, schon meldet sich VR-Präsidentin Monika Ribar zu Wort und räumt Fehler ihrer Vorgänger bei der Beschaffung ein (Stichwort: nur noch «bewährtes Rollmaterial»)[2]. Ex-BAV-Boss Peter Füglistaller plädiert für einen kleineren SBB-Verwaltungsrat und stigmatisiert damit dessen Hälfte der Inkompetenz [3], während sich alle über eines einig sind: der FV-Dosto hätte Wunder bewirken müssen und der Schweiz milliardenschwere Einsparungen bei der Infrastruktur bewirken, den Viertelstundenstakt zwischen den Knoten ermöglichen und gleichzeitig je Zug über 1200 Passagiere befördern müssen – und das bei schwebendem, wank- und stossfreiem Bahnkomfort. Das war wohl ein Ziel aus Tausend und einer Nacht, noch nie erreicht, kaum je erreichbar.
Christa Hostettler – schwieriger Start
Die neue Chefin des Bundesamtes für Verkehr steht damit vor einer grossen Heraus–forderung: Ausbaupläne revidieren, die Bahn neu denken, Komfort und damit die hohe Leistungsbereitschaft der Bahn in der Schweiz zurückbuchstabieren. Der Entscheid, auf die WAKO-Technologie zu verzichten sei ein «unternehmerischer Entscheid der SBB» gewesen, der Wegfall von Zeitgewinn müsse nun mit anderen Massnahmen kompensiert werden [4]. Damit distanziert sich das BAV gewissermassen von diesem Verzicht. Wie allerdings der Flickenteppich (Guido Schoch, Swissrailvolution) in ein klares Ausbaukonzept mit klaren Zielen und Prioritäten umgewandelt werden soll geht aus den Ausführungen der BAV-Direktorin nicht hervor. Auf die Kritik der Gruppe um Benedikt Weibel geht sie schon gar nicht ein, die Mehrkosten des Bahnausbaus der kommenden 10 Jahre von 30 statt der budgetierten 16 Milliarden Franken haben offenbar nicht wirklich «schockiert». Geld, v.a. Geld künftiger Generationen scheint in Hülle und Fülle zu fliessen, die Grenzen des Wachstums im Bahnwesen Schweiz scheint es nicht zu geben.
Kritik der Weibel Gruppe
Es wäre wünschbar, wenn die von Benedikt Weibel angestossene Debatte um das Bahnsystem der Zukunft ernsthaft aufgenommen würde. Die konkreten Stossrichtungen der Kritik dürfen nicht im Sand verlaufen, erstens die Verbesserung des West-Ost-Verkehrs, zweitens der Einbezug des Agglomerationsverkehrs von 25 Städten mit über 10’000 Einwohnern ins überregionale Bahnnetz und drittens die Verbesserung der Resilienz im West-Ost Verkehr. Hierzu folgende Anmerkungen:
Verbesserung West-Ost Verkehr
Bevölkerungsreiche Regionen wie Luzern und Zug oder Genf und das Wallis sind schlecht an den West-Ost-Verkehr angebunden. Zu grosse Umwege führen im Wettbewerb mit dem Individualverkehr zu klaren Nachteilen des Bahnverkehrs.
Vorgeschlagen wird u.a. die Idee einer zweiten Ost-West Verbindung vom Raum Luzern-Zug-Pfäffikon-St. Gallen mit Beschleunigungen im Verkehr Westschweiz-Bern nach Luzern, Zug, St. Gallen und einer Entlastung der Knoten Olten und Zürich. Man stelle sich vor: die Segnungen des FV-Dosto, d.h. der Zeitgewinn dank WAKO-Kurventechnik in seiner ideellen Konzeption sollen nun durch ein völlig neues Trassé quer durch die CH ersetzt werden. Allein dieser Vergleich zeigt drastisch, dass die Anforderungen an den Zug geradezu magisch waren.
Swissrailvolution argumentiert mit den geringeren Kosten einer Neubaustrecke im Vergleich zum Ausbau einer bestehenden Strecke (Bern-Olten 30 Mio./Bahnkilometer als Neubaustrecke versus Lausanne-Genf 100 Mio./Bahnkilometer als Ausbaustrecke, also Faktor 3! Dass bei diesem Szenario die gesprochenen 30 Mrd. für den Bahnausbau 2035 schnell verbraucht sind liegt auf der Hand. Aber auch der Planungsaufwand für Neubaustrecken verbunden mit enormen Zeitverlusten darf bei diesem Vergleich nicht unterschlagen werden.
Wie soll nun entschieden werden? Mit einem Moratorium, wie es die Weibel-Gruppe fordert und einem strategischen Fokus auf eine neue Ost-West Achse, zudem auch mit weiteren Vorteilen für die internationale Anbindung des Bahnverkehrs oder mit einem «weiter so», einem regionalen Flickenteppich, der zu relativ teureren Ausbauten mit immer geringeren Effizienzwirkungen führt?
Persönlich bin ich der Meinung, dass die WAKO-Technologie, deren Funktionsfähigkeit ja unbestritten und technisch abgenommen ist in Bezug auf ihren Fahrkomfort nochmals genau überprüft werden sollte. Sind alle Optimierungsmassnahmen ausgeschöpft worden? Wie ist der relative Fahrkomfort im Vergleich zu anderen Flotten? Könnte der Fahrkomfort mit einem weiterentwickelten Wankkompensationssystem auf zumutbare Weise so verbessert werden, dass auf teure Ersatz-Drehgestelle verzichtet werden könnte?
Leider sind diese Fragen eher hypothetischer Natur, nachdem auf die WAKO-Technologie abschliessend verzichtet worden ist, m.E. zu übereilig, schade.
Einbezug Agglomerationsverkehr von 25 Städten mit mehr als 10000 Einwohnern
Ein Blick in die Statistik der Ortschaften in der Schweiz mit mehr als 10’000 Einwohnern zeigt im Zeitraum 1995 – 2020 einen Anstieg von 113 auf 159 Ortschaften[5], die als Städte gelten, also im letzten Vierteljahrhundert ein Städtewachstum von mehr als 40%. Städte wie Richterswil, Aigle, Lenzburg etc. sind entstanden, allesamt mit Mobilitätsbedürfnissen wie andere Städte auch. Die Gruppe Weibel nennt allerdings nur 25 Städte und Agglomerationsgemeinden mit über 10’000 Einwohnern, die nicht ans überregionale Bahnnetz angebunden sind. Gemeint sind allerdings alle Newcomer, die in den letzten Jahren die Grösse einer Stadt erlangt haben, d.h. alle 46 Ortschaften der Erhebung. Ortschaften, die bestenfalls im Stundentakt mit einer Busverbindung an die nächstgrössere Ortschaft angebunden sind, wie z.B. Wald, Steinhausen oder Payerne.
Dass dem Regionalverkehr eine eminente Bedeutung bei der Wahl des Verkehrsträgers zukommt, ist evident. Entscheidend für die Wahl ist der komparative zeitliche Vorteil, d.h. die Fahrzeit von Tür zu Tür, wobei der Bahnverkehr gegenüber dem Individualverkehr einen nicht zu unterschätzenden Bonus aufweist: den Gewinn an Arbeitszeit im Zug.
Interessant wäre nun eine umfassende Lagebeurteilung durch das BAV nach Stadt, Stand der Vernetzung und Kosten einer besseren Anbindung der Stadt an das überregionale Netz. Um Prioritäten wird das BAV nicht herumkommen.
Verbesserung Resilienz im West-Ost-Verkehr
Unter Resilienz kritischer Infrastrukturen verstehen wir eine Strategie, die die Widerstandsfähigkeit kritischer Infrastrukturen durch eine erhöhte Anpassungs- und Regenerationsfähigkeit möglichst rasch erhöht. Störungen am Rollmaterial bzw. an der Infrastruktur haben insbesondere im Ost-West-Verkehr, d.h. an der Hauptachse des CH-Bahnsystems weitreichende Folgen. Entsprechend ist hier die Resilienz des Rollmaterials entscheidend. In den letzten Jahren konnte sich der FV-Dosto mit einer überdurchschnittlichen Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit seiner Fahrzeuge auszeichnen.
Leider werden Vergleichszahlen zu anderen Flotten nicht publiziert, womit der Eindruck entsteht, dass der wichtige Beitrag des FV-Dosto zur Resilienz des Bahnverkehrs auf der Ost-West Achse normal sei.
Seengen, 23.12.2024
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch
[1] Sonntagszeitung, 18.8.2024, Verkehrshaus der Schweiz «Die Eisenbahn vor ihrem dritten Jahrhundert», 5.6.2024
[2] AZ, 23.11.2024, S.11
[3] NZZ, 11.11.2024
[4] SRF1, Samstagsrundschau, 30.11.2024
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Städte_in_der_Schweiz.