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FV-Dosto, viel besser als sein Ruf
Briefing 10/23

Wer heute den FV-Dosto besteigt, den erfüllt ein gewisses Unbehagen. Der Paradezug quer durch die Schweiz hat seine hohen Erwartungen nicht erfüllt. Zu lange und zu intensiv war er einem medialen Trommelfeuer von Vorwürfen ausgesetzt, die heute, Jahre später immer noch nachwirken.

Wieso eigentlich?

Der FV-Dosto ist ein eleganter Zug, der aus dem bulligen Einerlei der SBB-Flotten geradezu heraussticht. Er bekommt seit Jahren gute Noten in Sachen Verfügbarkeit und Pünktlichkeit und erzielt auch Bestwerte in Sachen Energieeffizienz und Transportkapazitäten. Trotzdem ist seine Lebenserwartung amtlich von 40 auf 25 Jahre gekürzt worden. Man will ihn offenbar möglichst rasch wieder loswerden. Raubvogelqualitäten werden ihm abgesprochen, so erhält er keinen wohlklingenden Namen wie seine Konkurrenten Giruno und Astoro.
Zu Unrecht. Mit dem vorliegenden Beitrag soll versucht werden, den FV-Dosto in ein besseres Licht zu stellen, ihn zu rehabilitieren. Dabei soll auf eine über 10-jährige, oft turbulente Beschaffungsgeschichte zurückgeblickt werden, die nicht nur dem Lieferanten, sondern auch dem Kunden SBB und Dritten zur Last gelegt werden kann.

Machtverhältnisse im Beschaffungsverfahren

Als verantwortlicher Jurist der Funktion Legal von Bombardier hatte ich die Aufgabe, die Beschaffung «FV-Dosto» ab Ausschreibung (2010) zu begleiten, Risiken abzuwägen, aber wenn immer möglich alles zu unternehmen, damit wir diesen wichtigen Zuschlag gewinnen. Vor dem Hintergrund einer seit Jahren sehr einseitigen Beschaffungspolitik der SBB war dies kein einfaches Unterfangen. Unser Einfluss als beratende Juristen war dabei von Anfang an sehr limitiert, ging es doch darum, die wenigen verhandelbaren Passagen des Vertrages durch anbieterfreundlichere Alternativen zu ersetzen, dabei aber nicht wertvolle Punkte bei der Bewertung dieser Abweichungen zu verlieren. Die «vorbehaltslose Akzeptanz des Werkliefervertrages» machte immerhin 20% der Gesamtbewertung aus. Man war somit gut beraten, irrelevante verhandelbare Klauseln so wie vorgeschlagen zu belassen, um sich nicht unerfreuliche Abzüge von der Gesamtbewertung einzuhandeln.

Zu den wenigen «verhandelbaren» Vertragsklauseln gehörte z.B. die Regelung über die Haftungsbegrenzung. Die von Bombardier erstmals vorgeschlagene Regelung über 40% der Vertragssumme stellte zweifellos ein grosses finanzielles Risiko dar und konnte letztlich nur mit spekulativen juristischen Argumenten gerechtfertigt werden. So wurde z.B. argumentiert, dass ein Richter diese Regelung erst konsultiert, wenn andere prozessuale Hürden überwunden, nachgewiesen bzw. quantifiziert worden sind (Schaden, Vertragswidrigkeit, Kausal­zusammenhang, Verschulden u.a.m.). So konnte ein hohes nominelles Risiko im internen Abstimmungsprozess genehmigt werden.

Der Werkliefervertrag – ein eindrückliches Werk mit 31 Anhängen – unterstreicht die Bedeutung des Projektes und ruft die Pflichten des Lieferanten auf mannigfache Weise in Erinnerung. Der Vertrag strotzt nur so von Forderungen zeitlicher und inhaltlicher Natur. Die SBB führt Regie, sie definiert ihre technsichen Anforderungen, sie gibt den Zeitplan vor unabhängig von Machbar­keits­­risiken und sanktioniert Verspätungen, nicht nur von Endterminen, sondern auch von zahlreichen Zwischenterminen.

Die Römer nannten diese Konstellation eine «Societas Leonina», eine Gesellschaft von Löwe, Esel und Fuchs, wobei dieser in Form von Dritten, wie Subunternehmern, Zulassungsbehörden, oder Interessenverbänden und Medien in Erscheinung tritt. Von Anbeginn ist klar, dass eine Rollmaterialbeschaffung vom Kaliber einer FV-Dosto-Flotte nicht als schlichter Austausch von Leistungen (Synallagma)  zustande kommen kann, sondern zwingend eine funktionierende langfristige Partnerschaft der Vertragsparteien voraussetzt. Gegen den Löwen hat der Esel leider nur wenig zu bieten, im schlechtesten Fall wird er einfach gefressen. Statt gemeinsam, partnerschaftlich und grosszügig die zahllosen Hindernisse zu überwinden, die sich im Projekt zwangsläufig einstellen führt die Societas Leonina zu einer distanzierten, formellen sprich juristischen Kommunikation. Das oft eingeschrieben übermittelte, geschriebene Wort hat Vorrang vor dem mündlichen Konsens. Das Vertragswerk zur Stunde Null ist das Mass aller Dinge, selbst wenn ein Anforderungskatalog in über 400 Fällen änderungs­bedürftig und der Vertrag in hohem Masse auslegungsbedürftig ist.

Es ist dabei niemandem ein Vorwurf zu machen. Zur Regelungsdichte im Rollmaterialmarkt gesellt sich ein hochentwickeltes Beschaffungsverfahren nach altem Recht. So waren insgesamt über 1000 Preise zu kalkulieren, insgesamt enthielt der Vertrag v.a. termingebundene Risiken , die in einem Entwicklungsprojekt nur sehr schwer zu bewerten sind. Sodann zeichnet sich der Eisenbahnmarkt durch ein Geflecht von Normen aus, die oft zwischen Ausschreibung und Zuschlag ändern oder sowieso im Verlaufe des Projektes («floating risks»).

Bombi Bashing

Dass die gesamte Schweiz den Verlauf des Projektes genau verfolgen würde, war von Anfang an klar. Der Prestigezug der SBB, die damals grösste Beschaffung, der Zug, der die Schweiz durchquert und verbindet, der Zug, der somit alle Bürger und Passagiere interessiert, der CH-Zug schlechthin, seine Entstehung wurde mit Argusaugen verfolgt und benotet. Dies umso mehr, als der Schweizer Konkurrent von Bombardier, die StadlerRail auf der Strecke blieb, was  vielerorts in der Bahnwelt Kopfschütteln ausgelöst hat. Ich erinnere mich an ein Cartoon von Peter Gut in der Bilanz, das einen verdutzten Peter Spuhler am Bahnsteig in Bussnang zeigt, wo ein FV-Dosto mit Hochgeschwindig­keit hindurchbraust.

Schon dieser Umstand schaffte eine extrem hohe Latte, die es zu überspringen galt. Die Nervosität war auf beiden Seiten zu spüren. Die SBB hatte zu beweisen, dass ihr Selektionsentscheid richtig war, Bombardier musste sich international neu organisieren, um den Auftrag überhaupt stemmen zu können. Bislang war die Firma in der Schweiz nur mässig erfolgreich, der letzte grosse Zuschlag einer SBB-Flotte, im Konsortium mit Alstom realisiert, reichte  in die Firmenkonstellation vor der Übernahme durch Bombardier zurück. Für Bombardier war somit der Zuschlag FV-Dosto ein Lackmusstest seiner Organisation in der CH mit Zentren in beiden Landesteilen (Zürich und Villeneuve).  Und dies bei einer internationalen Zersplitterung von Konzeption, Konstruktion, Fertigung, Montage und Inbetriebsetzung auf unzählige Standorte!

Bei dieser Ausgangslage ist es nicht verwunderlich, dass das Projekt FV-Dosto für alle Beteiligten zur grossen, zu optimistisch eingestuften Herausforderung wurde: für die Lieferantin Bombardier ein stetes Nachhinken hinter ambitiösen Terminen, für die SBB ein dauerndes Abwägen zwischen Einflussnahme, Vertragsstrafe und «laisser aller», für Dritte wie Subunternehmer ein immer währendes Mittragen der Projektverzögerungen und der damit einher gehenden Liquiditätsproblemen, für Stakeholders wie Behindertenorganisationen eine Chance politisches Terrain im öffentlichen Verkehr zu erobern, für die DACH-Zulassungsbehörden der Testfall für ineffektive Zusammenarbeit und schliesslich für die Medienwelt, ein Thema, das für sich selbst verstärkende, süffige Schlagzeilen sorgt.

Anders als im Normalfall komplexer Beschaffungen haben wir es im Fall FV-Dosto mit einem Projekt zu tun, das einem toxischen Mix aus anbieterseitiger Schwäche, übertriebener kundenseitiger Einflussnahme, hohem Koordinationsaufwand im Anbieterkollektiv, zulassungsrechtlichem Neuland, gesteigerter Partikularinteressen Dritter und medialer Häme  ausgesetzt war.

Das Ergebnis ist bekannt: das hässliche Wort des «Pannenzuges» war stete Begleiterin des Projektes, allen Beteiligten schien in Zeiten nicht nachlassender Medienschelte der Ehrgeiz und die Lust an der termingerechten Vollendung des Projektes vergangen zu sein. Umso mehr muss das erreichte Ergebnis gewürdigt werden. Niemand kann heute beweisen, ob Konkurrenten besser abgeschnitten hätten. So konnte Stadler im Zeitpunkt der Ausschreibung keinen selbst gebauten Neigezug vorweisen (EBR, 5/2010, S.227). Die Anforderung des Stundentakts zwischen den Zentren wäre somit auch für den Primus der Branche eine riesige Herausforderung gewesen. Dass die von Bombardier angebotene und technisch realisierte Lösung WAKO mit verstärkten Querbeschleunigungen verbunden ist, war damals bekannt. Lieferantin wie Käufer haben es bewusst in Kauf genommen.

Aus heutiger Sicht stört, dass der Entscheid gegen WAKO nicht auf vergleichbaren und repräsentativen Messergebnissen erfolgt ist. Es fehlen vergleichbare Resultate zu anderen Doppelstöckern wie RegioDosto, anderen Neigezügen wie ICN, v.a. auch bei vergleichbarer Belegung, gleichen Trassen und gleicher Geschwindigkeit. Offenbar schneidet der FV-Dosto nach erfolgter Softwareanpassung in Sachen Querbeschleunigung besser ab als der beliebte IC2000 (swissdosto.ch). Trotzdem wird gegen die Technologie entschieden, wohl auch deshalb, weil Investitionen in unbekannter Höhe in die Trassen und v.a. eine technologische Abhängigkeit dadurch vermieden werden können.

Im Ergebnis kommt der FV-Dosto schlechter weg, als er es verdient hätte. Er gilt als Beispiel für ein aus dem Ruder gelaufenes Mega-Projekt, Politiker sprechen von einer «gigantischen Fehlinvestition» (Pfister), ein Professor fordert ungestraft die «Verschrottung der Züge» (Eichenberger), Behindertenorganisationen werden in 15 Beschwerdepunkten «behindert» (Inclusion Handicap) – wie soll man bei dieser Gemengelage noch Freude an einem Zug entwickeln?

Der Verzug und seine Gründe

«Der FV-Dosto ist neuartig und sehr komplex. Er ist eher ein Rechenzentrum auf Rädern als ein herkömmlicher Zug» (Vincent Ducrot, 1.7.22, TA). Diese Aussage ist keine schlechte Ausrede für den entstandenen formellen Verzug, nach Vertrag sollte die erste Einheit am 31.10.2013 (IR200/Übernahme) auf den Schienen stehen und fahren, dagegen begann die Inbetriebnahme der Flotte ab 2018, sondern ein objektiv zutreffendes Statement. Schon vor dem Zuschlagsentscheid machten Zweifel an der klaren Vorstellung über den Beschaffungsgegenstand seitens SBB die Runde: «Fast alles, was man sich in einem Zug vorstellen kann und als Stand der Technik gilt, ist als Option oder Variante gefragt. Mehr als 1000 Preise musste ein Anbieter rechnen» ist in der Eisenbahnrevue nachzulesen (EBR 5/2010, S. 227). Die von den Herstellern Bombardier und Siemens vorgestellten Technologien zum bogenschnellen Fahren (WAKO bzw. Sipko-System) waren in keiner Weise erprobt, somit zum Einsatz «am offenen Herzen» bestimmt. Stadler machte schon keine Angaben zu seiner Technologie, konnte er doch keinen selbst gebauten Neigezug vorweisen. Der erste Grund für den grossen Verzug lautet somit, dass die ambitiöse Vision eines Stundentaktes zwischen den Zentren mit einem grundsätzlich hohen Risiko erkauft worden ist, solange Prototypen fehlten.

Rückblickend stellt man fest, dass der FV-Dosto mit Obsoleszenzen verbunden ist, die teuer und zeitraubend waren. Das Fahrzeug musste als erstes Doppelstock-Hochgeschwindigkeitsfahrzeug für bogenschnelles Fahren in drei Ländern zugelassen werden. Dies hatte ein Zulassungsverfahren mit drei nationalen Ämtern und eine europäischen Zulassungsbehörde zur Folge, die ihre oftmals widersprüchlichen nationalen Anforderungen abstimmen mussten, ein Prozess, den weder die Lieferantin noch die SBB steuern konnten. So mussten beispielsweise bei der Höhe der Einstiegskanten die international unterschiedlichen Perronhöhen beachtet und in einem konstruktiven Ergebnis umgesetzt werden. Dieses nun führte zu steileren Einstiegs­rampen, was wiederum Probleme mit den Behindertenverbänden schuf. Der mit einem komplizierten Zulassungsprozess verbundene Verzug war im Vergleich zu Obsoleszenzen und Leerläufen, wie der zwar realisierte, aber nunmehr nicht genutzte Minibar-Lift oder der für den DACH-Verkehr entwickelte, aber nicht umgesetzte Vario-Pantograph um ein Vielfaches grösser und kaum vernünftig prognostizierbar. Kein Lieferant war bei Offertstellung in der Lage, ein Zeitbudget für den DACH-Zulassungsprozess und die Verfügbarkeit von Trassen abzugeben, die für eine provisorische und definitive Betriebs­bewilligung in drei Ländern notwendig sind. Der anspruchsvolle Zulassungsprozess ist somit der zweite Grund, weshalb ein so grosser Verzug entstanden ist.

Schlimmer als der Zulassungsprozess wirkt sich unter Verzugsaspekten der Entscheid der SBB aus, auf WAKO gänzlich zu verzichten, obschon WAKO trotz zumutbaren Abstrichen beim Fahrkomfort voll funktionsfähig ist. Der ganze Aufwand im Zusammenhang mit dieser neuartigen Technologie erfolgte offenbar vergeblich. Die SBB wollte bogenschnell im Stundentakt fahren, war sich aber im Klaren, dass damit millionenschwere Folgeinvestitonen in die Trassen und in den Unterhalt der Züge notwendig werden. Kurzerhand entschied sie sich gegen WAKO,  u.a. mit der Begründung, dass WAKO zwar technisch funktioniert, allerdings aufwändig im Unterhalt ist und damit nicht zukunftsfähig. Nach dem Designlife von 40 Jahren (!) käme man wieder auf Standard-Rollmaterial zurück, die Investitionen in die Bahninfrastruktur für bogenschnelles Fahren wären dann obsolet. Das heisst m.a.W.: WAKO war ein strategischer Fehlentscheid, wir haben uns anders entschieden, wir müssen sparen, den Aufwand, auch in zeitlicher Hinsicht, den ihr mit der Entwicklung, Erprobung und Zulassung von WAKO in drei Ländern betrieben habt müsst ihr nun abschreiben.

Interessant ist auch ein weiterer, kaum beachteter Aspekt der Verzugsproblematik. Der Verzug in Bezug auf Erfüllungstermine wird mit Konventionalstrafen belegt, die den Generalunter­nehmer treffen, in der Regel aber von Subunternehmern zu vertreten sind.  Die Folge:  Meilensteinzahlungen der SBB bei Übernahme bzw. Abnahme der Fahrzeuge bleiben aus, Liquiditätsprobleme entstehen. Juristischen Auseinandersetzungen tragen das ihrige dazu bei, dass sich die Zusammenarbeit im Anbieterkollektiv erschwert. Zahlungen bleiben aus, Leistungen bleiben aus. Die relative Abhängigkeit des Lieferanten von seinen oft exklusiven Subunter­nehmern reduziert seinen Handlungsspielraum. Im Hin und Her zwischen Kunde SBB – Lieferantin – Subunternehmer entsteht ein Abstimmungsaufwand (Multiplikatoreffekt), der sich massiv auf den Terminplan auswirkt. Bei rund 400 Leistungsänderungen, zahlreichen Mängelrügen kann man nachvollziehen, welch administrativer Zeitaufwand im Aussenverhältnis SBB – Bombardier und im Innenverhältnis Bombardier – Subunternehmer entstanden ist, wertvolle Zeit, die im ursprünglichen Budget bei Vertragsabschluss in keiner Weise veranschlagt werden konnte.

Verzug ist somit sicher auch der komplexen Angebotsstruktur geschuldet, die gemäss Vertrag neben den zwei Hauptkontrahenten mindestens 40 wichtige Subunternehmer beinhaltet, die für den Verzug zwar nicht verantwortlich sind, ihn aber trotzdem ganz oder teilweise verur­sacht haben.

FV-Dosto heute, objektive Sicht

Der FV-Dosto verfügt über die höchste SBB-Transportkapazität und kann als 16-Teiler (400 m) über 1300 Passagiere transportieren. Er verkehrt 94-mal quer durch die Schweiz. Nach anfänglichen Schwierigkeiten bei einer überstürzten Inbetriebnahme – jede Flotte kämpft mit Kinderkrankheiten – präsentiert sich der FV-Dosto heute mit einem Spitzenplatz in Sachen Pünktlichkeit (Eisenbahn Ö/D/CH, 13.1.23) und Zuverlässigkeit mit MDBI-Spitzenwerten (EBR 12/23, S. 562). Druckdichtigkeit (kein Ohrendruck) und bogenschnelles Fahren (WAKO) wurden mit Konzessionen bei Fahrgeräuschen und Fahrkomfort erkauft, dies ist der Preis einer unrealistischen MUSS-Anforderung, zumindest so lange als keine alternativen, besseren Lösungen auf dem Markt erhältlich sind.  Nachdem der Verzicht auf WAKO, der Verzicht auf die Ausschöpfung der vollen zugesicherten Lebensdauer und der sich abzeichnende Verzicht auf einen Einsatz des FV-Dosto ausserhalb der Schweiz offenkundig sind stellt sich die Frage, was diese Obsoleszenzen in Zeit und Geld gekostet haben.
Es stellt sich die Frage, ob die SBB einen Verzug pönalisieren kann, wenn dieser auch auf Anforderungen besteht, die am Ende gar nicht durchsetzt werden (können). Der Aufwand, der mit den genannten Anforderungen verbunden war, ist juristisch relevant. Es kann nicht sein, dass eine Ausschreibung im Ansatz derart viele konzeptionelle Fehler beinhaltet, am Ende aber nur die Lieferantin deren Folgen ausbaden muss. Der Aufwand für den nicht genutzten DACH- Vario-Pantograph und den Lift für die Minibar sei hier nur noch am Rande erwähnt.

Objektiv betrachtet muss der «Pannenzug» nicht als Ergebnis einer überforderten Lieferantin qualifiziert werden, sondern als «Lernblätz» einer selbstherrlichen Beschaffungsstelle. Kein Lieferant wäre den ambitiösen Anforderungen gerecht geworden. Dass sich Bombardier in dieses Abenteuer eingelassen hat, ist weniger einer nüchternen Risikobeurteilung zuzuschreiben, sondern einem existenziellen Zwang, in einem umstrittenen, vom lokalen Anbieter geprägten  Markt zu überleben.

Schlussfolgerungen

  1. Der FV-Dosto ist besser als sein Ruf. Dass er heute als zuverlässiger, schönster Zug seinen Dienst verrichtet ist nach dem einem nicht enden wollenden medialen Trommelfeuer eigentlich erstaunlich. Was musste er sich alles vorwerfen lassen: unglaublicher Verzug, Kinderkrankheiten ohne Ende, Behinderung von Behinderten, Gestank im WC, erhöhte CO2-Werte, zu wenig Platz für Kinderwagen und Velos u.v.a.m. Und: eingeschränkter Fahrkomfort. Dass er bei objektiver Betrachtung heute diese Einwände wegstecken kann, ist erstaunlich und leider kaum der Rede wert. Es wäre nichts als angemessen, wenn die SBB im kommenden 4. Statusbericht FV-Dosto diesem Umstand Rechnung tragen würden (der letzte Bericht stammt aus dem Jahr 2019). Auch wäre interessant zu wissen, wie die SBB den Nullentscheid WAKO und seine Folgen heute beurteilt.
  2. Das Rollmaterial-Beschaffungsverfahren muss auch unter dem Aspekt der relativen Marktmacht gewürdigt werden. Dass Lieferanten generell relativer Marktmacht der SBB ausgesetzt sind, dürfte auf der Hand liegen. Es gilt im Verfahren die Grenze zum Missbrauch aufzuzeigen. Eine Lieferantin ist dann relativer Marktmacht ausgesetzt, wenn ihren Ländergesellschaften keine zumutbaren und ausreichenden Möglichkeiten offenstehen, auf andere Beschaffungsstellen auszuweichen. Sie ist es aber auch, wenn die Marktgegenseite Bedingungen durchsetzen kann, die unter Wettbewerbs­bedingungen unmöglich wären. Eckpunkte sind: Marktanteile der beteiligten Unternehmen, Ausweichmöglichkeiten bei lokaler Bindung an Kapazitäten, fehlender Alternativen, branchenspezifische langfristige Geschäftsbeziehungen. Missbrauch liegt vor bei Behinderung bzw. Benachteiligung der Marktgegenseite, Diskriminierung bei Preisen oder sonstigen Geschäftsbeziehungen, bei Erzwingung und Koppelung von sachfremden Leistungen als Voraussetzung des Zuschlages.
    Das Beschaffungsverfahren wird nicht besser, wenn es komplexer und umfangreicher wird. Der Fall «FV-Dosto» zeigt, dass sich sowohl Lieferantin wie auch SBB förmlich verrannt haben, einen wenig konsistenten und realisierbaren Anforderungskatalog zum Akzept ausgeschrieben und von einem zu risikofreudigen Anbieter angenommen worden ist. Bombardier ist von der Bühne abgetreten, Alstom hat das Projekt übernommen, die Zukunft wird weisen zu welchem Preis (swissdosto.ch)
    Der Dialog muss das Beschaffungsverfahren stärker prägen. Komplexe Projekte müssen als solche erkannt werden. Es kann nicht sein, dass strategische Muss-Anforderungen, wie WAKO, kurzerhand verworfen werden. Wenn Machbarkeitsrisiken bestehen müssen diese benannt und nicht über Muss-Kriterien erzwungen werden. Das im Gesetz für komplexe Projekte vorgesehene Dialogverfahren muss angewandt werden, auch wenn es mit grösserem Aufwand für die Beschaffungsstelle verbunden ist.
  3. Der Beschaffungsvertrag sollte folgerichtig nur so viel fordern, wie machbar ist. Es nützt nichts, Forderungen, v.a. zeitliche, zu stellen, die nicht erfüllbar sind. Sie mit Pönalen zu belegen und diese durchzusetzen, wirkt wie ein doppeltes Verdikt. Überhaupt ist nicht einzusehen, wieso die Beschaffungsstelle mit dem scheinheiligen Argument der «Vergleichbarkeit von Angeboten» Verträge durchsetzt, die von einseitigen Forderungen nur so strotzen und mehr einer «Societas Leonina» als einer fairen Partnerschaft auf Zeit gleichen. Allianzverträge tun Not. Statt an der Fiktion eines klassischen Synallagmas im Rollmaterial-Langzeitvertrag festzuhalten, sind Wege zum Konzept eines Allianzvertrages zu finden. Dieser Vertragstyp fusst auf den Voraussetzungen einer funktionsfähigen Zusammenarbeit, die stärker auf die Vernetzung der Parteien, ihrer Unterakkordanten und Dritter hinzielt.
  4. Die SBB haben selbst bemerkt, dass am Rollmaterial-Beschaffungsverfahren reformiert werden muss (Kürzel «BaBe 2025»). Der Entscheid der SBB, ihre Flottenstrategie zu aktualisieren und nur noch auf «bewährte Züge und Techniken zu setzen» (SBB, 1.7.22) bedeutet im Klartext, dass ausländische Anbieter kaum mehr berücksichtigt werden können. In der Folge ersetzen die bewährten Flirt die bestehenden Flirt, Domino und GTW Fahrzeuge (286 Fahrzeuge, Wert rund CHF 2 Mia., mit Optionen für weitere 224 Züge), hinzu kommen 60 RegioDosto aus einer mächtig überstrapazierten Option des zugrundliegenden über 14-jährigen Vertrages, Wert: CHF 1,5 Mia . Die im nächsten Jahr anstehende Ausschreibung ZVV/SBB (Grössenordnung ebenfalls rund CHF 2Mia.) wird zeigen, was unter «bewährten» Zügen zu verstehen ist.

Falls tatsächlich de facto nur noch ein Hauslieferant übrigbleibt, muss sich die SBB überlegen, ob sie sich den Aufwand eines Beschaffungsverfahrens überhaupt noch leisten will oder ob sie von Anfang an freihändig bzw. im Dialog mit dem verbleibenden Anbieter beschaffen will. Möglich, dass sich die Überlegungen der SBB in Bezug auf ein vereinfachtes Beschaffungsverfahren in diese Richtung weiterentwickeln werden.