Es kommt gelegentlich vor, dass Beschaffungsobjekte Anforderungen erfüllen müssen, die sich im Nachhinein als obsolet erweisen. Produkteigenschaften erweisen sich als unrealistisch bzw. unerfüllbar, Planungsziele werden im Verlauf des Projektes revidiert, vorgesehene Einsatzbereiche entfallen aufgrund einer neuen Beurteilung. So weit so gut, Irrtümer und Fehlplanungen sind auch im öffentlichen Beschaffungswesen unvermeidbar. Das Beispiel FV-Dosto zeigt allerdings drastisch auf, dass es damit sein Bewenden nicht hat. Die DACH-Zulassung war mit enormem Zusatzaufwand verbunden und hat den Abnahmeprozess verzögert und verteuert. Wenn die Züge nun nicht ins Ausland fahren, stellt sich die Frage nach unnötigem Ressourcenverbrauch (Zeit und Kosten) zu Lasten der Lieferantin. Gravierender ist die Frage nach den Folgen der nunmehr offenkundigen Obsoleszenz von WAKO. Statt bogenschnell mit 200 km/h die Zentren zu verbinden, wichtige Vollknoten in Bern, Lausanne, Basel und St. Gallen zu schaffen bedeutet der Verzicht nun, dass mit gewaltigen Investitionen in die Infrastruktur, mit einem Rückbau von WAKO, bzw. anderen Nachbesserungen am Drehgestell die Ziele der Bahnreform 2030 anzusteuern sind.
Wer soll das bezahlen?
Begründung SBB
Offiziell lautet die Begründung der SBB für den Nullentscheid in Sachen WAKO:
«In den vergangenen zehn Jahren hat sich gezeigt: Techniken für Nischenmärkte und hoch komplexe Eigenanfertigungen wie die Wankkompensation für das bogenschnelle Fahren sind zwar technisch umsetzbar. Sie sind allerdings vergleichsweise fehleranfällig, aufwändiger im Unterhalt und damit nicht zukunftsfähig. Bei Testfahrten mit dem FV-Dosto wurde ausserdem deutlich, dass der Fahrkomfort beim bogenschnellen Fahren weder für die Kundinnen und Kunden noch für die SBB zufriedenstellend wäre. Deshalb wird die SBB künftig und gemäss ihrer aktuellen Flottenstrategie auf bewährte Züge setzen. Damit ist eine grössere Flexibilität und Zuverlässigkeit im Bahnbetrieb möglich: Fällt ein FV-Dosto aus, kann ein anderer Zugstyp eingesetzt werden, ohne dass sich die Reisezeit dadurch verlängert. Der Verzicht eröffnet die Möglichkeit, den Fahrkomfort des FV-Dosto weiter zu verbessern. Die SBB hat Alstom beauftragt zu prüfen, wie der Fahrkomfort weiterentwickelt werden kann und eine entsprechende Machbarkeitsprüfung ausgelöst.»
Diese Begründung löst in vielerlei Hinsicht Kopfschütteln aus:
- Zunächst muss einmal festgehalten werden, das WAKO eine Innovation ist, die alle Zulassungskriterien erfüllt hat. WAKO ist erprobt und stabil und trägt zur hohen Verfügbarkeit der Züge bei. Die SBB selbst bejaht die technische Umsetzbarkeit dieser Innovation.
- Der Fahrkomfort wurde nie im Zusammenhang mit WAKO diskutiert, geschweige denn von der Lieferantin Bombardier garantiert. Experten wissen, dass viele Faktoren den Fahrkomfort beeinflussen, so die Geschwindigkeit, der Zustand der Trassen, die Anzahl Weichen, die Belegung des Zuges und nicht zuletzt das subjektive Empfinden der Fahrgäste. Bei 200 km/h verhält sich das Fahrzeug stabil, bei tieferen Geschwindigkeiten bzw. bei Reaktionen auf Besonderheiten der Trassen können unliebsame Schwankungen entstehen, die aber von einer überwiegenden Mehrheit der Bahnpassgiere ohne weiteres hingenommen werden.
- Die Aussage der SBB greift somit zu kurz und kann so nicht akzeptiert werden. Der Entscheid gegen WAKO war nicht ein fundierter, sondern ein politischer, vorschneller Entscheid. WAKO funktioniert, und könnte im Rahmen einer echten Interessenabwägung Bestand haben. Verfrüht ist der Entscheid, weil auch die SBB im Rahmen von WAKO Investitionen in die bogenschnelle Infrastruktur leisten müsste (diese fallen nun weg). Verfrüht und sachlich nicht zu vertreten ist der Verzicht auf die Option WAKO, ohne auch nur im Ansatz die alternativen Kosten bzw. den Zeitrahmen für die Begradigung der relevanten Strecken zwischen Bern und Lausanne bzw. zwischen Zürich und St. Gallen zu benennen. Die Vollknoten schwinden damit in weite Ferne, mit ungewissen Folgekosten.
«Der» SBB-Passagier
«Der» SBB-Passagier ist in der Regel ein dankbarer Benutzer des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz. Gelegentliches Schütteln und Wanken im Zug, Schlaggeräusche der Druckdichtigkeit lassen ihn kalt, es sei denn die Medien hämmern ihm diese Themen derart ins Gedächtnis, dass er darauf aufmerksam wird. Davon abgesehen nimmt der SBB-Fahrtgast die Laufruhe und den Fahrkomfort des Fahrzeuges kaum wahr. Er will in erster Linie pünktlich von A nach B reisen, er will, wenn möglich ein ganzes Coupé für sich allein, wichtig sind ihm auch ein Elektrosteckplatz und ein funktionierendes WLAN, wenngleich er meistens mit dem Hotspot surft, das Rollmaterial kennt er im Übrigen kaum. Dass ihm Ruhe und Privacy wichtig sind erkennt man zudem an der intensiven Auseinandersetzung sämtlicher Fahrgäste mit ihrem Handy (kaum mit ihren Mitreisenden), explorative Ruhe in der Internet Bubble ist Trumpf. Soziale Immissionen wie solche, die regelmässig im Morgenzug vor Feier-und Ruhetagen von einrückenden Party-Leichen ausgehen sind ihm ausgesprochen lästig. Zusammenfassend geniesst «der» SBB-Passagier in erster Linie die komparativen Vorteile des Zuges gegenüber anderen Mobilitätsmitteln: inspirierendes Arbeiten im Zug (sofern die genannten zentralen Bedingungen erfüllt sind), Planbarkeit der Reise ohne Stau, Opportunitätspausen, -kontakte und Einkaufsgelegenheiten an den Stationen.
Im Zusammenhang mit dem Nullentscheid in Sachen WAKO wurden somit die Bedürfnisse des SBB-Fahrgastes meines Erachtens völlig falsch gewichtet. Der komparativ unwichtige Fahrkomfort wurde stärker gewichtet als vorrangige Transportbedürfnis des Fahrgastes: Pünktlichkeit der Verbindung und gute Anschlüsse an Anschlussverbindungen.
Wie die SBB ohne WAKO dieses Primärbedürfnis des Passagiers in Zukunft erfüllen will, bleibt ihr Geheimnis.
Post scriptum
Zu den FV-Dosto Obsoleszenzen gehören auch die in die Speisewagen eingebauten Lifte für die Minibars. Immerhin sind die damit verbundenen Kosten von CHF 2,5 Mio. insofern nicht endgültig versunken, als die SBB auf den Entscheid, den FV-Dosto im Oberdeck mit den beliebten Minibars auszustatten zurückkommen könnte. Wir bleiben dran.
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch