Die Art und Weise, wie Beschaffungsverträge ausgestaltet werden entzieht sich dem Vergaberecht. Nur am Rande erwähnt das revidierte Recht dieses prozessleitende Dokument, das unter Juristen akribisch geprüft wird, unter Projektleitern jedoch – da durchwegs interpretationsbedürftig – wenig Interesse auslöst. Im BöB wird der Vertrag im Grunde nur an einer Stelle erwähnt: dort, wo das Gesetz grundsätzlich Verhandlungen verbietet (Art. 39 BöB), woraus folgt, dass Verträge von der Beschaffungsstelle einseitig vorzugeben und durchzusetzen sind.
Auch in komplexen Langzeitprojekten?
„blauer“ (verhandelbarer) Teil
In grossen Rollmaterialprojekten wird der Anbieter mit einem Vertragswerk konfrontiert, das die Interessen der Beschaffungsstelle optimiert, nicht aber die primären Interessen einer erfolgreichen Projektrealisierung. Im Fall der SBB erhält der Anbieter immerhin einen Vertrag, der einen blauen (verhandelbaren) Teil aufweist. Diesbezüglich kann von der Vorgabe unter Inkaufnahme von Abzügen bei der Bewertung abgewichen werden. Prominentes und wohl wichtigstes Beispiel aus der Beschaffungspraxis der SBB ist die Höhe der Haftungsbegrenzung für Schäden in Prozenten der Vertragssumme.
Der Werkliefervertrag „FV-Dosto“ aus dem Jahr 2010 und dessen sklavische Akzeptanz machten damals immerhin 20% des Zuschlages aus. Der Beschaffungsstelle war damals wichtig, den Verhandlungsspielraum des Anbieters maximal einzuschränken und ihn zu motivieren, möglichst wenige Abstriche am Vorschlag vorzunehmen. Dabei ging es sehr wohl um Nachfragemacht, die mit dem Verweis auf die Gleichbehandlung (Gleichschlechtbehandlung?) aller Anbieter gerechtfertigt werden konnte.
Nachdem heute keine Verhandlungen, auch Preisverhandlungen mehr möglich sind – das Gesetz lässt diese nur zu, wenn sie zur Vergleichbarmachung von Angeboten nötig sind (Art. 39/2/a BöB) – schwindet nun nach neuem Recht der schon eingeschränkte Verhandlungsspielraum der Anbieter auf null. Das heisst mit anderen Worten, dass die Beschaffungsstelle den Vertrag vollständig, widerspruchsfrei, abschließend und v.a. prospektiv-korrekt entwerfen muss, um das Projekt nicht zu gefährden. Das ist v.a. bei komplexen Langzeitprojekten eine schier unlösbare Aufgabe, die hier hinterfragt werden muss. Diese Aufgabe wird noch unlösbarer, wenn man bedenkt, in welchem Umfang sich die Angebotsseite im schweizerischen Rollmaterialmarkt in den letzten Jahren monopolisiert hat.
Risikoüberwälzung und Projekterfolg
Komplexe Langzeitprojekte setzen komplexe Langzeitverträge voraus. Diese zeichnen sich nicht nur durch einen Langzeit- und Kooperationscharakter aus (Nicklisch, CR 2/92, S. 84), der sie von gewöhnlichen Dauerschuldverhältnissen unterscheidet. Zwangsläufig regeln Verträge auch den Umgang mit Risiken, in der Regel bekannten, oft aber auch unbekannten Risiken. Risiken führen zu Schäden, Schäden zu Erlösminderungen, zu roten Projekten. Risiken zu allozieren ist der eigentliche Zweck des Vertrages, v.a. in Projekten, bei denen diese Risiken mit grosser Wahrscheinlichkeit eintreten können.
Im Bahnbeschaffungsprojekt stehen sich einerseits das Interesse der Beschaffungsstelle nach vollständiger Überwälzung der Projektrisiken auf den Lieferanten und das Interesse an einer erfolgreichen Projektdurchführung gegenüber. Eine zu einseitige Überwälzungsstrategie ist dabei kontraproduktiv. Ein Verzicht auf Sicherheiten oder Entschädigungen im Falle eines Risikoeintritts wäre dagegen nur schwer mit dem sorgsamen Umgang mit staatlichen Mitteln vereinbar.
Die Beschaffungsstelle steht damit vor der anspruchsvollen Aufgabe einen „praktikablen“ Vertrag aufzusetzen, der Projektrisiken nicht nur richtig erkennt, sondern auch auf tragbare Weise auf den Anbieter überwälzt.
Risk-Oktagon „Unisys“
Das Projekt “Insieme” der Unisys ging 2010 mit einem Verlust von CHF 98 Mio. in die Geschichte der gescheiterten Beschaffungsprojekte ein. Das Projekt FV-Dosto hat auf beiden Seiten riesige Verluste generiert, die – 12 Jahre später – immer noch zu liquidieren sind. Beiden Projekten ist gemein, dass es «hochkomplexe» Langzeitprojekte waren, denen ein völlig inadäquater Werkliefervertrag zugrunde lag.
In beiden Projekten standen folgende Risiken im Fokus der Analyse:
- Inadäquate Basis für ein ausreichendes Projektdesign (Prototyping)
- Unrealistische Erfüllungstermine (als Folge)
- Unklare Abnahme- und Erfüllungskriterien
- Einseitige T&Cs
- Unklarheiten bei Scope, Design, Deliverables (Anforderungskatalog)
- Qualitative Personalengpässe beidseitig (Projektleitung, Zulassung, Engineering)
- Unklare Mitwirkungspflichten Kunde (mit Terminen, Folgen)
- Ungedeckte Subunternehmer “back-to-back”-Risiken.
In beiden Projekten wurden diese Risiken der Anbieterseite zugeordnet, obschon es sich um ein komplexes Langzeitprojekt handelte, das sich weniger durch einen Austausch- als durch einen Kooperationscharakter auszeichnete. Im Projekt «Insieme» ging es um die vollständige Erneuerung der über 20-jährigen IT-Plattform der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Das Projekt litt insbesondere unter den Risiken Nr. 1, 2, 5 bis 8, die am Ende einen Schaden in der Höhe von CHF 116 Mio. zu Lasten des Steuerzahlers generiert haben (NZZ, 29.07.22). Von aussergewöhnlichem Interesse war damals in diesem Fall, dass der Zuschlag ohne Vertrag mit einer Preisspanne von CHF 25,8 bis 99,4 Mio. zustande kam, der Konsens über den Vertrag danach aber ausblieb.
Im Fall des FV-Dosto kann von einer vollständigen Überwälzung sämtlicher Risiken Nr. 1-8 gesprochen werden. Auf einzelne Risiken, deren Inhalt und deren vertragliche Ausgestaltung werden wir in kommenden Briefings zurückkommen.
Zauberwort «Mitigation»
Wie hätte man es besser machen können? Trotz oder wegen ausgeprägter interner Kontrollen scheitern Projekte in einer frühen Phase der Ausschreibung. Bei Rollmateriallieferanten findet vor Offertabgabe ein regelrechter interner Kampf um Zusicherungen statt. Die prozessleitende Stelle will das Angebot unbedingt gewinnen und muss daher die MUSS-Kriterien erfüllen, auch den nicht-verhandelbaren Vertrag. Die internen Controller stehen ihnen im Weg. Am Ende sind die erkennbaren Risiken «mitigiert», die nicht-erkennbaren Risiken bleiben auf der Strecke.
Der heutige Zustand einseitiger, abschliessender und nicht-verhandelbarer Vertragsgestaltung macht es nicht einfacher. Der bei Zuschlag unterschriebene Vertrag unterliegt zwangsweise vielen Leistungsänderungen und Nachträgen, die das Projekt verteuern und verzögern. Besser wäre eine Vertragsmethodik nach dem Motto «so wenig wie möglich, so viel wie nötig» und einer rollenden Anpassung der Verträge, insb. des Anforderungskataloges. Sinnvoll wären zudem sog. «Spotlight-Klauseln», d.h. vermehrt Regelungen zu spezifischen Tatbeständen und Rechtsfolgen. Schliesslich ist eine klarere Trennung zwischen «allgemeinen» und «besonderen» Reglungen anzustreben: verbindliche unverhandelbare AGB der Beschaffungsstelle einerseits, notgedrungen verhandlungsbedürftige und deshalb verhandelbare projektspezifische Regelungen andrerseits.
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch