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BöB Nachhaltigkeit – Worthülse?
Briefing 1/23

Nachhaltigkeit – beschaffungsrechtliche Worthülse?

Der Begriff der Nachhaltigkeit ist im Vergabewesen nicht neu. Schon im alten Recht waren die Beschaffungsstellen dazu aufgerufen, eine gesamtheitliche Evaluation des „wirtschaftlich günstigsten“ Angebotes vorzunehmen. Dazu zählte immer auch die Nachhaltigkeit, verstanden als ökologisches und soziales Qualitätskriterium. Neuerdings figuriert die Nachhaltigkeit im Zweckartikel des Gesetzes, erweitert um die «volkswirtschaftliche» Nachhaltigkeit, womit diesem Anliegen ein höheres Gewicht beigemessen wird. Weil der Begriff der Nachhaltigkeit nur schwer definierbar, ge­schweige denn mit vernünftigem Aufwand kontrollierbar ist wird das Ermessen der Be­schaffungs­stellen in dieser Hinsicht zwangsläufig steigen und damit auch die Beschwerde­anfälligkeit eines Zuschlages. Im Bahnwesen stellt sich insbesondere die Frage, ob offenkundige Kriterien der Nachhaltigkeit nun einer zwingenden Vorgabe und Kontrolle unterstehen müssen.

Versprechen ist gut, kontrollieren besser

Anders als im Konsumgütersektor, wo die Nachhaltigkeit inflationär praktisch sämtliche Produkte befallen hat (sog. Greenwashing) haben wir es im Bahnsektor mit relativ konkreten und vordergründigen Fragen zu tun, mit denen die Nachhaltigkeit eines Produktes beurteilt werden kann. Hier eine mögliche Auswahl:

  1. Energieverbrauch: um abzuschätzen, welches Produkt punkto Energieeffizienz am besten abschneidet werden neben dem Gewicht des Fahrzeuges die Verbrauchswerte bezgl. Klima, Lüftung und Heizung berücksichtigt.
  2. Lebensdauer der Baugruppen und Komponenten, deren Reparaturfähigkeit
  3. Herkunft der Komponenten sowie der Ersatzteile derselben und Arbeitsbedingungen im Herkunftsland
  4. Reduktion ökologisch problematischer Hilfsstoffe (z.B. Spurkranzschmiermittel, aktueller Verbrauch SBB, 45 Tonnen pro Jahr. [1])

Der Zweckartikel in Art. 2, Abs. 1, lit.a BöB verlangt nun neben einem wirtschaftlichen einen volkswirtschaftlichen, ökologisch und sozial nachhaltigen Einsatz der öffentlichen Mittel. Das Beschaffungsobjekt muss somit nicht nur preislich attraktiv sein, es muss die offenkundigen Kriterien einer nachhaltigen Beschaffung zufriedenstellend bzw. im Vergleich mit Konkurrenz­angeboten besser erfüllen. Dabei steht die Beschaffungsstelle vor einem grossen Dilemma. Soll sie sich auf reine Versprechungen einlassen oder soll sie vor Zuschlagserteilung die zu erwartende Erfüllung dieser Kriterien kontrollieren, damit sie nicht die leere „Worthülse“ beschafft?

So lässt sich der Energieverbrauch einer Flotte mit anderen Flotten vergleichen, so erhält man immerhin einen Hinweis über die Relevanz einer Zusage. Das prognostizierte Gewicht des Fahrzeuges lässt sich demgegenüber erst nach Ablieferung nachmessen, mit allen Folgen einer Gewichtsüberschreitung für die Trassenpreise (Kosten, Abnützung der Trassen). Gleiches gilt für die Lebensdauer von Baugruppen und deren Wartbarkeit bzw. Reparaturfähigkeit. Auch hier muss sich die SBB mit Zusagen begnügen, die u.U. völlig unrealistisch sind und so den Zuschlag zu Unrecht verfälschen können. Die Herkunft der Baugruppen entfaltet Transportkosten, die berücksichtigt werden müssen, zumindest so lange, als sie GPA-Regeln nicht zuwiderlaufen, weil ausländische Anbieter in dieser Hinsicht zwangsläufig diskriminiert werden. Bei den Arbeitsbedingungen und weiteren Kriterien der sozialen Nachhaltigkeit (z.B. Lohngleichheit) begeben wir uns ebenso auf dünnes Eis, v.a. wenn Produkte aus dem fernen Ausland stammen, was bei Bahnkomponenten oft der Fall ist.  

Zusammenfassend wird man den Eindruck nicht los, dass die Stärkung der nachhaltigen Beschaffung zur Überforderung der Beschaffungsstellen beitragen wird und damit der Sache wenig dient. Die wirkliche Bewältigung dieser Hausaufgaben schafft grossen Mehraufwand in Form von Zeit und Kosten, für den Ressourcen fehlen. Blosse Versprechungen und vertragliche Zusicherungen der Anbieter sind dann untauglich, wenn sie nicht bei Abgabe des Angebots bzw. während der Vertragserfüllung überprüft werden. Gleiches gilt für Selbstdeklarationen, die vom Anbieter Garantien für seine Subunternehmer verlangen, ein ebenso schwieriges, weil kaum erfüllbares Unterfangen. Die angedrohten Konventionalstrafen, die dem System der ver­sprochenen Nachhaltigkeit zum Durchbruch verhelfen sollen, dienen primär der Gewissens–beruhigung der Beschaffungsstellen, die auf diese Weise ihre Marktmacht ausüben und mühsame Kontrollen elegant durch angedrohte Vertragsstrafen substituieren können. In Tat und Wahrheit zwingt das System den Anbieter zu Garantien, die auch er nur rudimentär überprüfen kann: volle Übertragung des Risikos garantierter Nachhaltigkeit auf den Anbieter, voller Anspruch auf Vertragsstrafen bei der Beschaffungsstelle und dies trotz offenkundiger Unmöglichkeit hinreichender Abklärungen vor und nach dem Zuschlag.

Man könnte nun einwenden alles sei halb so kompliziert, weil im Bahnwesen die Nachhaltigkeitskriterien des Energieverbrauches und die Lebensdauer von Baugruppen im Vordergrund stehen. Selbst wenn man nur diesen zwei Aspekten ein stärkeres Gewicht beimessen würde, bliebe der Aufwand immens, sowohl im Innenverhältnis Generalunternehmer-Subunternehmer wie auch im Aussenverhältnis Anbieter-Beschaffungsstelle. Bei 32 Baugruppen (Beispiel FV-Dosto) würden sich somit grundsätzlich 64 Kontrollstränge vor Abgabe des Angebots und während der Vertragserfüllung ergeben. Zusagen bezüglich Nachhaltigkeit verkommen so zur reinen Deklamation oder zur Worthülse, nicht aber zur justiziablen Zusicherung.

Empfehlungen BKB  

Die Beschaffungskommission des Bundes (BKB) hat im Juni 2021 Empfehlungen zu den nachhaltigen Beschaffungen herausgegeben. Damit wird das Unbehagen der kompetenten Stellen deutlich: der Begriff der nachhaltigen Beschaffung öffnet ein weites Feld von Spekulationen um einen neuen Rechtsbegriff. Mit den Empfehlungen samt Leitsätzen will die BKB den Beschaffungsstellen das korrekte Einkaufen erleichtern, eingedenk der Tatsache, dass wir es bei der Nachhaltigkeit um ein ganzes Spektrum von Vorstellungen handelt, die zwischen einer schwachen und starken Nachhaltigkeit unterscheiden (weak and strong sustainability).

Zunächst rufen die «Leitsätze für eine nachhaltige öffentliche Beschaffung» [2] allgemeine Standards in Erinnerung, die über den engeren Begriff der Nachhaltigkeit hinausgehen. Dabei spielen die Prinzipien von ISO 20400 eine Rolle. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf Klumpenrisiken auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite. Die einseitige Flottenpolitik der SBB illustriert dieses Risiko überdeutlich.

Das BKB erläutert, wie die Ausschreibung unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit gesteuert werden kann: durch zwingende Teilnahmebedingungen, technische Spezifikationen, Eignungs- und/oder Zuschlagskriterien. In allen Fällen muss eine direkte Auswirkung im Sinne eines Mehrwertes auf das zu beschaffende Produkt vorliegen. Was plausibel tönt kann im Einzelfall Kopfzerbrechen verursachen: so wäre es z.B. unzulässig einen chinesischen Zugbauer vom CH-Markt auszuschliessen, nur weil die ökologischen und arbeitsrechtlichen Standards am Produktionsort den zwingenden Teilnahmebedingungen widersprechen. Damit aber erhält der Konkurrent aus China einen Wettbewerbsvorteil, der die Bewertung verfälschen kann.

Was kann die Beschaffungsstelle nun Konkretes aus den Empfehlungen ableiten?

Die nüchterne Antwort lautet: nichts. Sie bleibt sich selbst überlassen, wenn es darum geht, neben dem Preis Aspekte einer nachhaltigen Beschaffung zu bewerten. Ich behaupte, dass sie besser fährt, spezifische Anforderungen an die Nachhaltigkeit des Beschaffungsobjektes im Anforderungskatalog festzulegen, um auf diese Weise das potenzielle Prozessrisiko zu reduzieren. Sobald sie ökologische Anliegen als Zuschlagskriterien definiert muss sie ökologische Mehr- und Minderleistungen bewerten, was oft schwierig ist. Ist nun der Energieverbrauch wichtiger als die Lebensdauer von Baugruppen? Wie lässt sich die Rezyklierbarkeit von Baustoffen gegen den Minderverbrauch von Spurkranzschmiermitteln aufwiegen? Wie lassen sich längere Transportwege mit schlechteren Standards bei der Entlöhnung und den Arbeitsbedingungen vergleichen? Alles Fragen, die sich stellen, aber schlichtweg nicht beantwortet werden können.

Beispiel FV-Dosto

Es lohnt sich, die grösste und innovativste Beschaffung der SBB unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit Revue passieren zu lassen. Die Beschaffung erfolgte allerdings noch unter altem Recht, insofern eignet sie sich nicht als Testfall der neuen Regelung.

Im Vertrag wird der Nachhaltigkeit mit vertraglichen Sanktionen zum Durchbruch verholfen, Im Fall der Lebensdauergarantien mit Nachbesserungspflichten:

  1. Der Vertrag sieht Nachbesserungsechte für Komponenten vor, deren zugesicherte Lebensdauer nicht erreicht wird. Im Fall von vier sogenannten A-Komponenten (Fahrmotor, Haupttransformator, Klimagerät-Abteil und Bremskompressor) sieht der Vertrag Rücktrittsrechte vor, falls diese Zusicherung nicht erfüllt wird. Die Lebensdauer der Komponenten überschreitet dabei in der Regel die gesetzliche Garantiedauer, so dass Nachbesserungspflichten bzw. Rücktrittsrechte bei A-Komponenten noch lange bestehen können. Die Beteiligung der SBB an der Mängelbeseitigung nach «Massgabe des bisherigen Nutzens» ist dabei ein schwacher Trost.
  2. Wichtig im Zusammenhang auch die Frage, wann die Lebensdauer zu Ende geht. Dies ist der Fall, wenn die Funktionstüchtigkeit der Komponente als solche nicht mehr gewährleistet werden kann, ein Umstand, der immer dann eintritt, wenn die Komponente als solche durch Reparaturmassnahmen in Stand gestellt werden kann.
  3. Beispiele für Lebensdauergarantien: Verkabelung: 100000 Std., elektrische Komponenten: 40 Jahre, Korrosionsschutz (Unterrostung): 7 Jahre, Hauptschalter: 15 Jahre (ohne Demontage), Bremsen: 15 Jahre/4,8 Mio. km. Es zeigt sich somit, dass die Haftung des Lieferanten für die zugesicherte Lebensdauer von Komponenten während der gesamten Lebensdauer der Flotte Nachbesserungsleistungen hervorrufen kann.
  4. Im Ergebnis lösen Lebensdauerverpflichtungen nach Ablauf der ordentlichen Garantiedauer für einfache oder Serienmängel von 3 bzw. 5 Jahren (ab Abnahme des jeweiligen Fahrzeuges) Nachbesserungsansprüche aus, wenn die Funktionstüchtigkeit einer Komponente als solche ausfällt, was der Fall ist, wenn diese nicht mehr instand gestellt werden kann oder wenn die Reparaturkosten den Wert des Hauptschalters übersteigen. Die finanzielle Beteiligung der SBB an den Nachbesserungskosten steigt dabei nach Massgabe der effektiven Lebensdauer der Komponente.

Sodann sieht der Vertrag eine rigide Kontrolle der zugesicherten Energieverbrauchswerte vor, unterteilt nach Fahrbetrieb, Heizung/Lüftung/Klima (HLK), Parkstellung (ohne HLK), WC-System je Zugtyp (IC200, IR200, IR100). Abweichungen von zugesicherten Werten schlagen sich in erhöhten Trassenpreisen nieder, für die die Lieferantin, während 25 Jahren einstehen muss. Abweichungen vom zugesicherten Gewicht, die für die Energieverbrauchswerte mitursächlich sind werden separat pönalisiert, und zwar bei Gewichtsunterschreitungen mit einem Bonus, der zweieinhalbmal kleiner ist als der entsprechende Malus bei Gewichtsüberschreitungen.

Die Einhaltung der sozialen Nachhaltigkeit erfolgt über eine Selbstdeklaration der Lieferantin, die Kontrollen der SBB auslösen kann, und zwar bei der Lieferantin wie auch bei Subunternehmern und Unterlieferanten. Geht es z.B. um die Lohngleichheit von Mann und Frau stellen sich eine Fülle von Fragen: bei wem soll kontrolliert werden, welche Jobs eignen sich für einen Vergleich, wann soll kontrolliert werden (vor dem Zuschlag, während der Projekterfüllung, nach Abnahme). Das gleiche Dilemma präsentiert sich bei den Arbeitsbedingungen, bei der Entsendung und bei der Einhaltung der allgemeinen Geschäftsbedingungen der SBB (als genereller Verweis). Bei dieser Ausgangslage ist es nicht verwunderlich, dass die ausgefüllte Selbstdeklaration fein säuberlich in der Schublade abgelegt wird.

Fazit

Am vergangenen Baurechtsseminar 2023 in Fribourg war von einem Paradigmenwechsel die Rede, indem das neue Recht «einen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Einsatz öffentlicher Mittel» verlangt (Martin Beyeler). Aufgrund des Gesagten ist dieser Paradigmenwechsel im Vergleich zum alten Recht nicht sichtbar, es sei denn, dass die kaum kontrollierbare bzw. unkontrollierte «Selbstdeklaration der Lieferantin» durch neue Nachhaltigkeits-Standards[3] ersetzt wird,  die qua Eignungs- oder Zuschlagskriterien in die Ausschreibung Eingang finden. Aber davon sind wir noch weit entfernt – in der Bahnindustrie sowieso.

Anschrift des Verfassers:

Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch


[1] Swiss Industry Association, Interview mit Dr. F. Steinebrunner, Igralub AG, Zürich, Oktober 2022.

[2] BKB, Nachhaltige Beschaffung, Empfehlungen, Juni 2021

[3] Z.B. Standard nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS)