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Auf „Escrow“ verzichten
Briefing 8/23

«Escrow» – fragwürdige Hinterlegung von geschützter Information

Mit sogenannten Hinterlegungsverträgen (engl. «Escrow Agreement) wird in komplexen Langzeitverträgen der Bahnindustrie die Zukunft abgesichert. Die Idee dahinter: als Kunde im Konkurs des Lieferanten oder falls essenzielle Leistungen ausbleiben dank einem umfassenden Zugriff auf die hinterlegte geschützte Information das Projekt selbst vollenden zu können. Die Fragen der technischen Machbarkeit und des Nutzens derartiger Auflagen sind in komplexen Langzeitprojekten zahlreich. Es stellen sich Fragen im Zusammenhang mit dem langfristig brauchbaren  Aufbewahrungsmedium, Fragen der technischen und inhaltlichen Obsoleszenz von Daten im Langzeitprojekt, Fragen nach den korrekten Herausgabemodalitäten u.v.a.m.

Das Beispiel «FV-Dosto» zeigt, dass neben Projektverzögerungen, die auf andere Fehlplanungen zurückgehen wie WAKO, die DACH-Zulassung, den Lift für die Minibar, Beschwerden der Behindertenverbände u.a.m. auch fragwürdige werkvertragliche Auflagen zu unkontrolliertem und v.a. nutzlosen Aufwand geführt haben.

Was ist ein Escrowvertrag?

Ein Escrowvertrag (nachstehend «EV») ist ein Sicherungsgeschäft, in dem zwei Parteien eines Grundgeschäftes mit einem Dritten, dem sog. «Escrow Agenten» (nachstehend «EA») die Hinterlegung von geschützter Information beim Letztgenannten vereinbaren. Der EA nimmt die Hinterlegungsobjekte nach den Vorgaben der Parteien des Grundgeschäftes in Gewahrsam und übergibt sie dem Ansprecher (sprich dem Bahnkunden) nach den Modalitäten des Vertrages. Mit Übergabe der Hinterlegungsobjekte wird dem Lieferanten die Verfügungsmacht über die Objekte entzogen.

So weit so gut, wenn es sich um eine Reihe von überblickbaren analogen oder elektronischen Hinterlegungsobjekten handelt. Problematisch sind hingegen Hinterlegungsobjekte, die über einen langen Zeitraum verändert («upgedatet») werden, deren Handhabung und Nutzung nur von ausgewiesenen Spezialisten im Anbieterkollektiv bewerkstelligt werden kann und deren nominelle Zahl schon aufgrund der Komplexität eines Projektes kaum mehr überblickbar ist.

So stellen sich insbesondere folgende Fragen:

  • Welche geschützte Information tritt die Lieferantin an den Kunden ab, damit sie nicht im EV hinterlegt werden muss? Wo beginnt die strikte Geheimhaltung von Geschäfts­geheimnissen?
  • Wann muss die Hinterlegung beginnen? Bei Projektabnahme oder früher?
  • Wie lange muss diese sogenannte «geschützte Information» hinterlegt werden? Welcher Teil darf als statisch bezeichnet werden (einmalige Hinterlegung), welcher Teil als dynamisch oder volatil, d.h. einer im Projekt ständigen Veränderung bzw. Weiterentwicklung unterlegen? Wie funktioniert der Update-Zyklus?
  • In welchem Medium soll hinterlegt werden? Welche Datenspeicher sind langfristig nutzbar? Sind die relevanten Systeme (insb. Software Tools) im Zeitpunkt des Zugriffs noch verfügbar?
  • Wo, d.h. bei welchem Escrow Agenten soll hinterlegt werden? Was passiert, wenn dieser vor Ablauf der Lebensdauer des Fahrzeuges untergeht?
  • Auf welche Schlüsselpersonen des Lieferanten ist der Ansprecher im Zugriffsfall angewiesen? Ist die Nutzung der Hinterlegungsobjekte auch ohne Schlüsselpersonen sichergestellt?

Bereits aus diesen Fragen folgt, dass die Umsetzung von Escrow im Projekt sehr rasch ins Uferlose auswuchern kann. Man fragt sich dann: wieso Escrow, wenn Escrow mit grösster Wahr­scheinlichkeit keinen Nutzen stiftet.

Beispiel FV-Dosto

 Der Rollmaterial-Werkliefervertrag unterscheidet normalerweise zwischen geschützter Information, die dem Kunden ausgehändigt wird und solcher, die Gegenstand des EA wird. Im ersten Fall unterliegt sie der Vertraulichkeit, im zweiten Fall erhält sie der Kunde erst, wenn die Zugriffsvoraussetzungen im EA erfüllt sind. Hinterlegt werden deshalb Informationen, an denen der Lieferant ein gesteigertes Geheimhaltungsinteresse hat, weil er befürchten muss, dass Geschäfts- und Fabrikations­geheimnisse zur Konkurrenz abwandern.

Statt dass der Lieferant aus ureigenem Interesse diese Grenze definiert, sieht nun der Vertrag FV-Dosto (nachstehend «WLV FV-Dosto») explizit vor, was zu hinterlegen ist – eine Fehlkonstruktion. So zählt der Vertrag insgesamt 14 Kategorien von Hinterlegungsobjekten auf, die umfassend zu hinterlegen sind (z.B. detaillierte Beschreibung jeder Software und dazu gehörende Programm- und Quellcodes, soweit diese von der Lieferantin hergestellt oder anderweitig erworben worden sind). Innerhalb dieser Hinterlegungskategorien figurieren 19 Kategorien von Hinterlegungsobjekten, die «stets nachgeführt» werden müssen, z.T. auch Daten, die bereits im Besitz des Kunden sind (z.B. die Dokumentation der Fahrzeuge, in Kraft getretene Betriebsbe­willigungen, Protokolle von Typenprüfungen u.a.m.). Dies wirkt so, als ob damit mit der Hinterlegung im Escrow auch eine redundante, komplette Projektablage zur eigenen Ablage generiert werden soll.

Dass mit einer vertragsgerechten Hinterlegung dieser 33-teiligen Matrix von Hinterlegungs­objekten ein enormer Aufwand für beide Vertragspartner verbunden ist, liegt auf der Hand. Die Komplexität steigt weiter an, wenn man bedenkt, dass in der Regel über 30 System-Subunternehmer ihren Beitrag zur Hinterlegung leisten müssen. Völlig illusorisch ist eine «erste Liste der Hinterlegungsobjekte», die der Kunde 2 Monate nach Projektbeginn (Vertrags­abschluss) fordert. Niemand kann in diesem Zeitpunkt für sich in Anspruch nehmen, einen Überblick über die zu hinterlegenden Objekte zu besitzen.

Welche Datenträger überleben das Design Life?

Als Speichermedien kommen externe Festplatten (SSD-Festplatten) CDs, DVDs oder USB-Sticks in Frage. Die Lebensdauer dieser Speichermedien ist unterschiedlich und beträgt zwischen 10 und 30 Jahren. Unabhängig vom technischen Fortschritt der Speichermedien lässt sich diese Lebensdauer nicht mit dem vertraglich geforderten Designlife des Fahrzeuges von 40 Jahren vereinbaren. Immerhin lässt sich festhalten, dass der Zugriff auf die Daten im wesentlich über die genannte Zeitspanne möglich sein sollte, immer vorausgesetzt, dass das richtige Speichermedium verwendet wurde und dass entsprechende Systeme im Zeitpunkt des Zugriffes noch verfügbar sind.

 Update Zyklen – Kontrollen und Sanktionen

 Die Hinterlegung erfüllt nur dann ihren Zweck, wenn die hinterlegten Objekte im aktuellen Software-Release verfügbar sind. Dadurch entsteht die Notwendigkeit möglichst zeitnah sämtliche Programme auszutauschen, die Gegenstand eines Software-Updates waren. Wie gross diese Aufgabe im Langzeitprojekt wirklich ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Tatsache ist jedoch, dass sie einen erheblichen Administrativ- und Kontrollaufwand mit sich bringt. Der Escrow-Agent in seiner Rolle als «Durchlauferhitzer» kann dabei keinen Tatbeitrag leisten. Die schwierige Selektions- und Austauscharbeit kann nicht delegiert werden, sondern muss von den wenigen Projektspezialisten bewerkstelligt werden, die vermutlich schon im nächsten Projekt engagiert sind. Es stellt sich somit mit Fug die Frage, wie die Updatezyklen sichergestellt und kontrolliert werden.

Nutzung der Hinterlegungsobjekte – ohne Schlüsselpersonen?

 Weiter bleibt offen, wer die Schlüsselpersonen sind, die dannzumal im Zugriffsfall die hinterlegten Daten nutzen können. Im Konkurs der Lieferantin ist der Ansprecher auf sich allein abgestellt, Schlüsselpersonen sind somit nicht mehr verfügbar. Zudem reichen bereits Zeithorizonte von 10 Jahren und mehr, um erhebliche Probleme bei der Interpretation der betrieblichen Vergangenheit zu produzieren. Sind noch Spezialisten greifbar, die den Ansprecher bei der Nutzung der Hinterlegungsobjekte unterstützen können. Dies muss bezweifelt werden.

 Integraler oder selektiver Zugriff auf Objekte?

 Im Supergau der Herausgabeszenarien – dem Konkurs der Lieferantin – liegt es auf der Hand, dass der Ansprecher auf sämtliche Hinterlegungsobjekte zugreifen kann, ja muss, ist es doch erklärtes Ziel der Hinterlegung, dass er nun selbst, ohne Hilfe der Lieferantin das Projekt in die Hand nimmt, bzw. vollendet und seinen Betrieb sichert. Anders verhält es sich im Fall der «nicht- oder nicht-gehörigen Erfüllung des Vertrages» oder wie sich der einschlägige Vertrag ausdrückt «falls die Lieferantin sich aus dem Werklieferungsvertrag ergebende Ver­pflichtungen nicht erfüllt, und zwar solcherart, dass ihre Nichterfüllung die Auflösung des Vertrages rechtfertigt» (WLV «FV-Dosto», 2010, Anhang 12). Wann ist dieser Grad an Nichterfüllung erreicht? Nüchtern betrachtet gelten die Verzugsregeln des Obligationenrechtes, d.h. schriftliche Rüge der Vertragsverletzung durch den Kunden, Setzen einer Nachfrist zur gehörigen Erfüllung, ergebnisloser Ablauf der Nachfrist, grundsätzliches Recht zum Rücktritt, d.h. zur Auflösung des Vertrages. Dieses «strittige» Herausgabeszenario, das nicht per se mit dem Untergang der Lieferantin verbunden ist, dürfte somit auch auf die Frage hinauslaufen, was denn an geschützter Information auszuhändigen ist: nur jene, die mit dem gerügten Vertragsverletzung zu tun hat oder sämtliche Information. Man kann nur darüber spekulieren, in welche Teufels Küche die Parteien geraten, sollten sie sich diesen Fragen stellen müssen.

Herausgabemodalitäten im Streitfall

 Zwischen den Parteien agiert der Escrow Agent als neutraler Vermittler. Er darf Hinterlegungsobjekte nur aushändigen, wenn formelle Voraussetzungen erfüllt sind. So z.B. im Konkurs der Lieferantin, wenn ein Gericht den Konkurs über die Lieferantin rechtskräftig eröffnet hat. Dieser im Ablauf reichlich späte Vorgang – man bedenke, dass ein Konkursverfahren über verschiedene Stufen (Konkursandrohung, Konkursbegehren etc.) Zeit kostet – ist immerhin sauber beweisbar und ermächtigt den Agenten, seinen Tresor zu öffnen. Im strittigen Herausgabeszenario liegen die Dinge jedoch anders. Wie soll der Ansprecher beweisen, dass Verpflichtungen nicht erfüllt worden sind und somit die Auflösung des Vertrages gerechtfertigt ist, wenn diese Kontroverse strittig ist. Mit welchem Dokument kann er beweisen, dass sein Anspruch auf Herausgabe der Hinterlegungsobjekte gerechtfertigt ist? Ein eingeschriebener Brief an die Lieferantin reicht wohl nicht aus, die (unwahrscheinliche) schriftliche Schuldanerkennung der Lieferantin schon. Im wichtigen Herausgabefall der Nicht- oder nicht gehörigen Erfüllung des Vertrages ist das Konstrukt des Escrowvertrages somit schon an den praktischen Schwierigkeiten der Beweisbarkeit zum Scheitern verurteilt.

Fazit: auf Escrowverträge verzichten

 Die Vorstellung, durch einen Zugriff auf im Escrow hinterlegte Daten die Zukunft absichern zu können bleibt illusorisch. Ein Zugriff unterbleibt in der Regel schon deshalb, weil der Ansprecher mit der Verwertung des herausverlangten Materials restlos überfordert ist. Die massiven Kosten der Aufbereitung, Speicherung, Dokumentation und Administration der Hinterlegungs­objekte verpuffen nutzlos. Im Zugriffsfall fehlen Schlüsselpersonen im Anbieterkollektiv, die dem Ansprecher helfen könnten, das sich stellende Problem zu lösen. Verfügbare Systeme, Hardware, Software und Software-Tools sind möglicherweise veraltet und erschweren einen Zugriff. Schliesslich gefährden Auseinandersetzungen um den Herausgabegrund der nicht-konformen Vertragserfüllung den notwendigen raschen Zugriff.

Escrow im Rollmaterialprojekt muss deshalb als teure und nutzlose Fehlkonstruktion bezeichnet werden, die mehr dem machtunterbauten Sicherheitsdenken des Bahnkunden entspringt und weniger praktischer Relevanz. Ich wage hier die Behauptung, dass noch keiner der in der Schweiz agierenden Bahnkunden die Herausgabe von Objekten im Escrowvertrag  je geltend gemacht hat.

Fazit: auf Escrow in komplexen Rollmaterialprojekten zu verzichten befreit Ressourcen für wichtigere Aufgaben und bietet Effizienzpotenziale im Projekt.

 Quellen:

  • Werkliefervertrag FV-Dosto, 15.06.2010, Anhang 12
  • Langzeitarchivierung, Wikipedia

Anschrift des Verfassers:

Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch