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Allianzverträge – Vision mit Stolpersteinen
Briefing 2/24

Die SIA Kommission „Allianzverträge“ hat soeben ein Merkblatt 2065 „Planen und Bauen mit Projektallianzen“ angekündigt, das aufhorchen lässt. Es spricht zentrale Dinge an, die in der Realität komplexer Langzeitprojekte postuliert werden, aber oft fehlen: Effektivität in der Wirksamkeit und Effizienz in der Verwendung von Produktionsfaktoren, eine ausgewogene, faire Allokation von vertraglichen Projektrisiken, die Vision einer Interessengleichrichtung dank gemeinsamer Ziele und Projektsteuerung, eine Wertschöpfungspartnerschaft mit einem gemeinsamen Tragen von technischen Innovationsrisiken, ein gemeinsam definierter Leistungskatalog, eine gemeinsamen Steuerung des Projektes, eine Anreiz-basierte Vergütung nach Projekterfolg und eine Abschaffung der Schuldzuweisungskultur. Aus diesem Konzept resultiert ein Mehrparteien-Allianzvertrag, in den neben den klassischen werkvertraglichen Parteien Unternehmer und Besteller, Subunternehmer, Planer, Experten und auch Behörden eingebunden sind.[1]

Ein Projekt wie FV-Dosto hätte aufgrund seiner Komplexität , seiner Projektgeschichte und dem massiven Einfluss Dritter auf das Projektgeschehen perfekt in das beschriebene Konzept des Allianzvertrages hineingepasst. Bleibt allerdings die grosse Frage: sind Allianzverträge praktisch umsetzbar? Wer führt am Schluss die Allianz? Welche Folgen haben die zahlreichen Schnitt–stellen auf die Gesamtverantwortung im Projekt? Wie ist der Allianzvertrag rechtlich zu quali–fizieren? Und schliesslich: ist vom Allianzvertrag eine Belebung des vergaberechtlichen Dialogverfahrens zu erwarten?

Diesen Fragen gehen wir nachstehend mit Blick auf die Jahrhundert-Rollmaterialbeschaffung FV-Dosto im Einzelnen nach.

Vorbemerkung

 Das per Sommer 2024 angekündigte SIA Merkblatt 2065 wird mit Spannung erwartet. Es entspringt einem Unbehagen in der Vertragsgestaltung und Projektabwicklung komplexer Langzeitprojekte, dem mit einer Abkehr vom klassischen Synallagma abgeholfen werden soll.

Nicht mehr Leistung und Gegenleistung stehen im Fokus, vielmehr geht es um partner–schaftliches, vernetztes Denken, Handeln und Entscheiden unter Einbeziehung sämtlicher Stakeholder. Dieses Konzept ist ambitiös und vermutlich deshalb zum Scheitern verurteilt, weil es eminent praktischen Bedürfnissen widerspricht: hier Leistung, dort Vergütung, hier Risiko, dort Haftung, hier Führung, dort Massnahme. Die Vision einer partnerschaftlichen Projekt–realisierung (de facto und vermutlich auch de iure in der Form einer «Quasi-einfachen Gesellschaft») läuft Gefahr, Projektrealitäten auszublenden.

Effektivität – Effizienz

 Der effektive, d.h. wirksame und der effiziente, d.h. zielgerichtete Einsatz der hier und jetzt vorhandenen Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeit, Knowhow) eines Projektes ist der Schlüssel zum Projekterfolg. So banal dieser Satz in der Theorie tönt, so schwierig ist er in die Praxis umzusetzen. Der Rollmaterialanbieter verfügt über limitierte Produktionsfaktoren, die weltweit koordiniert in zum Teil konkurrierenden Projekten im Einsatz sind. Kapital, d.h. Liquidität ist zweckgebunden von Vorauszahlungen des Bestellers abhängig, bei Vertragsabschluss in einem Projekt wie FV-Dosto bei 15% der Summe aller Serienpreise sowie 50% der Einmalkosten, also bei einer stattlichen Summe von über CHF 300 Mio. Nichts garantiert indessen, dass dieser zweckgebundene Betrag aus überwiegenden Konzerninteressen in andere Projekte abfliesst. Neben Kapital spielen die Produktionsfaktoren Arbeit, verstanden als die verfügbaren, möglichst lokalen Produktionskapazitäten und das in diesen Kapazitäten verfügbare Knowhow eine eminente Rolle. In den wenigsten Fällen steht es bei einem Zuschlag der Beschaffungsstelle in den Startlöchern bereit, da ja bis zum letzten Tag der Entscheid offen ist. So waren sämtliche Werke von Bombardier in der Schweiz und im Ausland mit dem Zuschlag 2010 auf einen unverzüglichen  Ausbau ihrer Produktionsmittel angewiesen, womit Ungewissheit über Qualität und Quantität und v.a. auch Redundanz der zu beschaffenden Mittel einherging.

 Einseitige Risikoallokation

 Über die u.E. sehr einseitige und machtunterbaute FV-Dosto-Vertragsgestaltung ist in dieser Reihe schon wiederholt berichtet worden (vgl. Briefings 4/22, 5/22, 9/22). Man darf einer Beschaffungsstelle SBB mit Fug den Vorwurf machen, nach der Methode «après moi le déluge» Verträge aufgesetzt zu haben, wohl ahnend, dass entsprechende Risiken für die Lieferantin völlig untragbar sind. Zu erwähnen sind harte verzugsbegründene Termine, Mehrfach-Folgepönalen bei Projekt-Zwischenterminen, ein rigider Aufbau von Hindernissen bei Ansprüchen aus Nachträgen, Inkaufnahme massiver, eigener und dritter Einflüsse ins Projektgeschehen mit der Folge, dass zwar Wertschöpfungspartnerschaften entstanden, Risiken aber kaum vergemein–schaftet worden sind.

Einer Auskunft der SBB, Christian Frisch, Leiter Rollmaterialentwicklung vom 28.02.2024 zu Folge  fokussiert die neue Beschaffungsstrategie BaBe 2025 weniger auf die genannten Anliegen von Projektallianzen, sondern mehr auf Hauptstossrichtungen wie vorausschauendes, integratives, modulares und ausgewogenes Handeln. Eigentliche Allianzverträge im Dialogverfahren (Art. 24 BöB) sind offenbar noch kein Thema. Von positiven Effekten des Parallelprozesses der Wettbewerber ist die Rede und von internationalen Standards, vermutlich auch in Bezug auf die Vertragsgestaltung. Hier sei vorläufig vermerkt, dass die Grundidee des Allianzvertrages, über die Hauptparteien Dritte in die Allianz einzubinden im Rahmen künftiger Strategien der SBB noch nicht angekommen ist. Dabei böte das Dialogverfahren Raum auch für vertragliche Flexibilität im Gegensatz zur einseitigen Erzwingung von Vertragsbedingungen.[2]

Zielkongruenz, Wertschöpfungspartnerschaft

Das Synallagma beinhaltet weitgehend harmonische Ziele, hier Leistung, d.h. Erfüllung des Vertrages, dort Gegenleistung, allerdings gepaart mit Gewinnoptimierung. Die Zielkongruenz muss zunächst inhaltlich im Rahmen des Leistungs- bzw. Anforderungskataloges erzielt werden, ein Bereich mit grossem Verhandlungsspielraum. Sodann muss ein Konsens im Sinne eines praktikablen Verfahrens bestehen, um Vertragsstörungen einvernehmlich zu beheben. Antinomische Ziele liegen allen Nachträgen (Vertragsanpassungen), Haftungsfragen bei Mängeln und regelmässig auch allen Vertragsauslegungen zu Grunde, die das Projekt mit sich bringt. Hier will jede Partei zu Recht ihre Interessen schützen, d.h. Nachträge in Zeit und Kosten realistisch abgelten, Mängelursachen adäquat zuordnen und alle Lücken oder Widersprüche im Vertragswerk nach anerkannten Methoden der Lückenfüllung anpassen. Oft reichen informelle Verfahren dazu nicht aus.

Die Vision einer Interessengleichrichtung dank gemeinsamer Ziele und Projektsteuerung  scheitert immer dann, wenn antinomische Interessen im Projekt auftreten. Das Projekt FV-Dosto bietet in dieser Hinsicht reichlich Anschauungsmaterial: Ausschreibung, Offerte, Zuschlag, Vertrag, ein änderungsanfälliger Anforderungskatalog, Verzugsfolgen in Form von einmaligen oder widerkehrenden Vertragsstrafen, die widersprüchlich vereinbart, bzw. erzwungen worden sind, worüber Streit entsteht; die unerwartete Einflussnahme Dritter (z.B. Behindertenverbände) ins Projektgeschehen, die schwierige Einbindung von Subunternehmern in die Haftungslandschaft des Grundvertrages, und schliesslich Liquiditätsprobleme im Aussenverhältnis zum Kunden und daraus folgend im Innenverhältnis zu Subunternehmern. Das Projekt FV-Dosto zeigt exemplarisch auf, wie aus einer (vordergründigen) Zielharmonie bei Zuschlagserteilung im Verlauf des Projektes eine Zieldisharmonie resultieren kann, die nichts mehr mit einer Wertschöpfungspartnerschaft zu tun hat. Die negativen Energien, die vom Interessengegensatz ausgelöst werden, hindern den planmässigen Fortgang des Projektes. Formalismus, Protokolle, Einschreiben nehmen Überhand, das partnerschaftliche, informelle Gespräch tritt in den Hintergrund. Die Allianz droht zum Scheidungsfall zu werden.

 Anreiz-basierte Vergütung

 Allianzverträge zeichnen sich dadurch aus, dass die Vergütung vom Projekterfolg abhängig gemacht wird. Beim Erreichen oder Übertreffen der Projektziele sollen alle Partner gewinnen bzw. beim Nichterreichen dieser Ziele alle verlieren. Einseitige Gewinn- oder Verlustszenarien soll es nicht mehr geben.[3] Wie soll nun diese Zielsetzung in einem Rollmaterialprojekt verwirklicht werden? Zur Auswahl stehen alle Leistungsparameter, die mit einer Konventionalstrafe belegt sind: Verzugsend- und -zwischentermine, Gewicht, Energieverbrauch, Sitzplätze, Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der Fahrzeuge (RAMS/LCC). Nach dem beschriebenen Ansatz wäre weder eine Über- noch eine Unterschreitung der geforderten Parameter mit finanziellen Folgen verbunden. Die Lieferantin wäre sofort mit dieser Lösung einverstanden, aber, woher käme die Motivation, die Leistungsdaten zu übertreffen, also z.B. frühzeitig zu liefern, eine bessere Energiebilanz vorzuweisen als vertraglich vereinbart, leichtere Fahrzeuge zu bauen als versprochen etc.  Man wird unschwer erkennen können, dass Allianzverträge in dieser Hinsicht den Realitäten komplexer Projekte kaum gerecht werden können. Das aus der kooperativen Zusammenarbeit folgenden «No Blame-Prinzip» ist zwar sehr wünschbar, entspringt aber weniger einer vertraglichen Regelung als einer Grundhaltung der Parteien, die durchaus auch in klassischen Austauschverträgen anzutreffen ist.

Mehrparteien-Allianzvertrag

 Ein konkretes Vertragsmuster eines Allianzvertrages nach dem Merkblatt 2065 der SIA ist noch in Vorbereitung. Man darf gespannt sein. Allianzverträge sollen weiterhin als Austausch- und damit Interessengegensatzverträge ausgestaltet sein, allerdings mit dem Ziel, «das einhergehende Konfliktpotenzial durch eine grösstmögliche Harmonisierung der Interessen zu entschärfen».[4] Will man tatsächlich das Prinzip der Alleinhaftung des Leistungserbringers durch eine Art Solidarhaftung der Anbietergemeinschaft ersetzen wandelt sich Charakter des Vertrages zu einer Art «einfachen Gesellschaft», die kaum mehr praktisch umsetzbar ist. Von einem mehrstufigen internen Streitbeilegungsverfahren ist kaum ein Gewinn für den knappen Faktor Zeit zu erhoffen.

Fazit

 Die vertragliche Abwicklung komplexer Langzeitprojekte auf der Basis klassischer Werkliefer–verträge bietet einen nur unzureichenden Rahmen für das notwendige gesteigerte Mass an Zusammenarbeit, das diese Projekte erfordern. Es ist also nachvollziehbar, dass die Praxis nach neuen Modellen der Zusammenarbeit sucht, die besser auf die sich stellenden Heraus–forderungen zugeschnitten sind, wie z.B. weniger Formalismus, mehr Improvisation, weniger Blaming, mehr Partnerschaft, weniger Nachtragsbedürftigkeit von Anforderungskatalogen dank institutionalisierten Dialogen, weniger Risikoallokation, mehr Solidarität. Die Anliegen sind plausibel, nur die Zuordnung von Leistung, Verantwortung und Führung scheint im Allianzvertrag, so wie er heute diskutiert wird ungeklärt.

Was ist zu tun?  Verträge entschlacken, sie, soweit hochrisikobehaftet, anpassen und, soweit kooperative Elemente enthaltend, ausbauen. Kurzfristig ist es wichtig, dass sich die Parteien beim Abschluss ihrer Verträge bewusst sind, was sie unterschreiben. Wir vertreten hier die Meinung, dass zahlreiche Komponenten klassischer Werklieferverträge entweder ersatzlos gestrichen werden können oder zumindest vor ihrer Verabschiedung auf Machbarkeit hinterfragt werden müssen. Zur ersten Kategorie gehören prozedurale Vorgaben, die praktisch ohne Wert sind, z.B. Änderungsverfahren, Eskalationsverfahren, Preiskontrollverfahren, dann aber Auflagen, die das Projekt nur verteuern, einen riesigen administrativen Aufwand mit sich bringen und kaum einen nachweisbaren Wert beinhalten, z.B. Bankgarantien, Auflagen, die Subunternehmer eingehen müssen, aber kaum überwälzt werden können. Stattdessen plädieren wir für einen umfassenden Katalog von Mitwirkungspflichten, abgestimmt auf die einzelnen Projektphasen und verstanden als echte Leistungspflichten.

Allianzverträge bleiben wie auch das gesetzlich vorgesehene Dialogverfahren juristisches und v.a. auch projektreales Neuland. Es bleibt zu hoffen, dass die praktische Umsetzung der für komplexe Projekte dringend notwendigen besseren Kooperation und Interessengleichrichtung in einem verstärkt zur Anwendung kommenden Dialogverfahren voranschreiten wird.

Briefing 2_24_long 

Anschrift des Verfassers:

Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur.
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch

[1] SIA Merkblatt 2065 – ein neues Werkzeug zur Projektrealisierung, Kommission SIA 118, 16.01.2014

[2] Ausführlich Leitfaden öffentliche Beschaffungen mit Dialog für Planungs- und Werkleistungen im Baubereich, KBOB, 12.4.2021, V1.0

[3] BR/DC4/2023, S. 189, skeptisch H. Stöckli zum SIA Merkblatt 2065

[4] P. Schurtenberger, Mustervertragsbedingungen für Allianzverträge, BR/DV 2/2023, S.125