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Aktenzeichen GBT – ungelöst?
Briefing 5/25

Aktenzeichen «GBT 10.08.2023» ungelöst – 
wo ist der Schlussbericht?

Wir erinnern uns nur ungern an die desaströse Entgleisung eines Güterzuges im Gotthard-Basistunnel vom 10. August 2023. Nicht nur wegen des grossen Schadens an der brandneuen[1] Infrastruktur des längsten Eisenbahntunnels der Welt, sondern auch wegen des mulmigen Nachgeschmackes punkto Sicherheit, den dieser Unfall bei Bahnreisenden zurücklässt. War es ein Ausnahmefall, der in naher und ferner Zukunft kaum mehr vorkommen wird? Wenn nein, werden wir das nächste Mal gleichermassen Glück haben und ohne Personenschaden davonkommen?

Nach dem SUST-Zwischenbericht vom 22.09.2023 hat das BAV zwar am 17.10.2023 ein normales (nicht-dringliches) JNS-Verfahren beim ERA eingeleitet, in Bezug auf konkrete Sofortmassnahmen herrscht jedoch Funkstille. Verdächtige Radsatztypen sind auf einer schwarzen Liste gelandet, im Verkehr sind sie aber dennoch. Ein vertraulicher Untersuchungsbericht des BAV wird bislang unter Verschluss gehalten.[2] Wieso? Es lohnt sich einen Blick zurückzuwerfen, um das von internationalen Zuständigkeiten und Finanzsorgen geprägte hochkomplexe Risk Management im Bahnverkehr besser zu verstehen. 

Blick zurück 22.09.2023

Der Zwischenbericht zum Unfall vom 22.09.2023 gipfelt in der Feststellung, dass Radscheiben sicherheitskritische Komponenten sind, die bei einem Ausfall unmittelbar zu einem schwerwiegenden Unfall führen können. Die SUST[3]empfahl deshalb dem BAV eine «INS Procedure»[4] bei der EBA[5] zu beantragen. Im Visier der Untersuchung steht die Radsatz-Baureihe des Typs BA 390, die der vergleichbaren Baureihe des Typs BA 004 entspricht, die in Belgien und Italien 2016 bzw. 2017 analoge Haarrisse aufwies, die zu Unfällen führten wie der hier suspekte Radsatz der Baureihe Typ BA 390.  Gleichzeitig räumt der Bericht ein, dass dieses Sicherheitsdefizit nicht detektierbar sei, da der Riss und sein Wachstum von der Anzahl Leitzyklen abhängig und nur im sichtbaren Radbereich erkennbar ist. Sicher wäre somit nur ein gänzlicher Verzicht auf diese Radsätze, wohl aus praktischen Gründen unrealistisch.

Und: es liegt eine schwarze Liste von insgesamt 7 Radsätzen vor, die aus technischen Gründen gleichermassen verdächtig sind wie der inkriminierte Radsatz BA 004 bzw. BA 390.[6] Auf gut Deutsch: guter Rat ist teuer!

Klangproben – besser als nichts

Die INS empfiehlt in Ihrer ersten Alert als Sofortmassnahme eine Klangprobe an allen Rädern mit Rissen vom Radkranz, also vom äusseren Rand bis zum Steg (Verbindung Radkranz – Nabe) , wie folgt:[7]

«Ein Rad mit Rissen vom Radkranz bis zum Steg kann durch eine Klangprobe unabhängig von der Lage der Risse über den Umfang erkannt werden. Das Rad antwortet mit einem dumpfen Geräusch. Defekte an der Lauffläche (ohne Rissausbreitung bis in den Radsteg) können nicht erkannt werden. Ungerissene Räder reagieren unabhängig vom Radtyp (Stegform) und Raddurchmesser mit einem hellen Klang. Voraussetzungen für die Klangprobe: Der Test sollte zwischen 2 und 5 oder 7 und 11 Uhr am Umfang durchgeführt werden. Der Test kann an der Lauffläche oder an den Außenseiten des Radkranzes durchgeführt werden. Die Bremse ist zu lösen. Die Prüfung kann mit einem normalen Hammer mit kurzem Stiel oder mit einem speziellen Hammer mit langem Stiel durch den Güterwagen-Prüfer durchgeführt werden. Aus ergonomischen Gründen wird ein langer Stiel empfohlen.»51

Das EBA warnt immerhin vor Irreführenden Testergebnissen: der Test auf der 12-Uhr-Position (obere Position des Rades) klingt immer gedämpft; Radsätze mit angezogenen Bremsklötzen oder nicht vollständig gelösten Bremsklötzen klingen ebenfalls dumpf oder gedämpft. In diesem Fall ist das vollständige Lösen der Bremsklötze zu prüfen; im Falle eines dumpf klingenden Rades ist es notwendig, das gesamte Rad genauer zu untersuchen. 

Fazit: Die Klangprobe kann in besonderen Fällen als zusätzliche Methode zur Erkennung von gerissenen Radkränzen und gebrochenen Rädern eingesetzt werden.

Wir blättern zurück: es geht um die Frage, wie wir auf den Unfall vom 10.08.2023 punkto Sicherheit reagieren sollen. Unbestritten ist, dass ein grosser Teil der Güterwaggons in Europa mit Klotzbremsen unter Verwendung von LL-Laufsohlen ausgestattet ist. Diese LL-Laufsohlen sind geräuscharmer als ihre Vorgänger aus Gusseisen, haben aber den Nachteil, dass sie sich stärker erwärmen und deshalb Haarrisse begünstigen. Auch das Unfallfahrzeug im GBT verfügte über derartige Laufsohlen, und zwar solche des Typs Baureihe RA 390. 

Insgesamt verkehren in der EU rund 600’000 Güterwagen.[8] Man kann sich kaum vorstellen, mit welchem Aufwand die von der EBA/INS vorgeschlagene Klangprobe verbunden wäre. Rechnet man mindestens 4 Räder pro Waggon ergeben sich daraus 2’400’000 Klangproben, die periodisch oder regelmässig durchzuführen wäre und dies bei strengen Testeinschränkungen und zweifelhaftem Erfolg. Klangproben sind somit besser als nichts, die Sicherheit wird dabei allerdings, wenn überhaupt nach dem Zufallsprinzip verbessert. Klang-Stichproben sind somit statistisch nicht wirklich schlechter als umfassende Kontrollen. 

Composite-Radsätze versus LL-Laufsohlen 

NR Benjamin Giezendanner/SVP empfiehlt einen generellen Ersatz von LL-Laufsohlen durch Scheibenbremsen oder gar Composite Radsätzen mit Scheibenbremsen. Letztere bieten abgesehen von einem 4-mal höheren Anschaffungspreis gegenüber einem konventionellem Radsatz im Zusammenhang mit dem hier relevanten Problem des Radbruchs klare Sicherheitsvorteile. Ein Ersatz jener Radtypen, die mit dem Typ BA 004 «vergleichbar» sind [9]stünde dabei im Vordergrund. Wie viele der 2’400’000 Mio. Radsätze davon betroffen sind lässt NR Giezendanner – und offensichtlich auch das EBA – offen![10]

Wie geht es weiter?

Amtlicherseits geht es zunächst mit Empfehlungen weiter:

«Repräsentative Stellen oder EU-Mitgliedsstaaten bzw. EFTA-Mitgliedsstaaten sollten eine Diskussion zur Klärung der Verantwortlichkeiten und Haftung der verschiedenen Akteure, insbesondere der für die Instandhaltung zuständigen Stelle, mit der Europäischen Kommission initiieren;

Die Vertretungsorgane sollten in Erwägung ziehen, ein JNS-Verfahren zu notifizieren, um den Eisenbahnunternehmen Leitlinien für die ordnungsgemäße Einbeziehung Dritter, insbesondere der für die Instandhaltung zuständigen Stellen, in ihre betrieblichen Tätigkeiten zu geben. Anschließend ist zu prüfen, ob der Rechtsrahmen geändert werden muss, und es sind gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge zu formulieren.»[11]

Nun, damit ist noch wenig zur unmittelbaren Senkung des Risikos «Scheibenbruch» beigetragen. 
Immerhin soll damit eine erste gesamteuropäische Sensibilisierung initialisiert werden. 
Gemäss Bahnexperte Roland Müller sind 99% sämtlicher Güterwägen in Europa noch mit Klotzbremsen und LL-Bremssohlen ausgerüstet, d.h. rund 2’376’000 Räder! Diese auf Composite Bremssohlen umzurüsten ist aus Kostengründen eine Illusion. Es bleibt somit bei Klangproben der verdächtigen Radsätze, schwer umzusetzen, schwer zu kontrollieren.

Gibt es einen Weg über die Haftung? Wagenhalter haften im Schadenfall nicht, haben folglich kein echtes Interesse an einer Umrüstung. Zur Auswahl verbleiben die EVU (die Bahngesellschaften, die den Lokführer stellen), die ECMs, die mit Wartung und Unterhalt der Fahrzeuge betrauten Unternehmen und schliesslich die Zertifizierungsstellen, die entsprechende Wartungsfirmen zertifizieren. NR Giezendanner wendet sich vehement gegen eine rechtliche Inpflichtnahme der Wagenhalter und warnt vor einem Zusammenbruch des Umlagerung Strasse-Schiene.[12]

Es bleibt dabei: kurzfristig ein systemisches Problem mit (analogen) Klang-Stichproben bekämpfen, technische Ersatzlösungen sukzessive und mittelfristig umsetzen, mit einem grossen Restrisiko weiterhin tief schlafen und hoffen, dass nichts passiert. Der Zielkonflikte zwischen Sicherheit und Verkehrsverlagerung bleiben offenkundig. Am Ende aber sollte die Sicherheit oberstes Ziel bleiben.

Seengen, 01.05.2025

Anschrift des Verfassers:

Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur. 
RailöB GmbH, bertrand.barbey@railoeb.ch



[1] Der GTB ist am 1. Juni 2016 in Betrieb genommen worden.

[2] SRF-Rundschau vom 26.02.2025

[3] SUST schweizerische Sicherheitsuntersuchungszentrale 

[4] INS Procedure = Joint Network Safety Procedure

[5] ERA = European Railway Agency, Eisenbahnagentur der EU mit Sitz in Valenciennes/F

[6] ERA/INS, Normales Verfahren, Unfall GBT, gebrochene Räder, Anhang Radsatzanalyse, 20250404_final; 7 weitere Radsatztypen sind unter Sicherheitsaspekten mit den inkriminierten Typen BA004, BA390 zumindest relevant

[7] ERA/INS, Normales Verfahren, Unfall GBT, gebrochene Räder, Abschlussbericht 11.04.2024

(8) Deutschlandfunk, Güterwaggons der Zukunft, 22.05.2014

[9] Gemäss EBA/JNS wären dies die Radsätze Db-004sa, BA 390 (der hier relevante), RI 025, R32 und BA 304), interessant, dass selbst das EBA keinen umfassenden Überblick über sämtliche Radtypen verfügt, die in Europa herumrollen (vgl. Folien 30 und 31 des Berichtes).

[10] Die SRF-Rundschau-Expertenrunde vom 26.02.2025 hält aber fest, dass alle Radtypen vom Bruchproblem potenziell betroffen sind. 

[11] ERA/INS, Normales Verfahren, Unfall GBT, gebrochene Räder, Abschlussbericht 11.04.2024, Folie 60

[12] Der schwedische Wagenhalter Transwaggon BV ist Eigentümer des besagten Wagens, der den Unfall im Gotthard verursacht hat. Muttergesellschaft ist die Transwaggon AG, mit Sitz in Zug, es haftet aber das EVU, das den Lokführer stellt, also die SBB-Cargo. Bei einer Schadenssumme von CHF 150M ohne Folgekosten ist davon auszugehen, dass die Versicherer versuchen werden, auf die ECM (Entity in Charge of Maintenance) oder den Wagenhalter Regress zu nehmen, wenn ihnen ein Verschulden vorgeworfen werden kann.  

Briefing 5_25