„Bombi Bashing“ – ein Rückblick
News-Portale von Online-Medien weisen in ihrem Dossier „FV Dosto“ seit Jahren über zahllose wenig schmeichelhafte, wenn nicht vernichtende Berichte über Bombardier auf (srf.ch). Sie reichen vom Problem der Störungen bei der Erprobung der Fahrzeuge bis zu den unrealistischen Forderungen von Stakeholdern an den Wagenkastenbau und das Layout. Am Schüttelzug, am Pannenzug klebt viel Pech auch Jahre nach seiner verspäteten Inbetriebsetzung. Positive Entwicklungen, z.B. über die aktuelle Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit des Zuges werden kaum erwähnt, differenzierte Berichte über die wahren Ursachen der Verspätung fehlen gänzlich. Im Gegensatz dazu wird der Erzrivale und Konkurrent von Bombardier, die Stadler Rail AG und sein Exponent Peter Spuhler in zahllosen Dossierbeiträgen (blick.ch) glorifiziert. Dieses polarisierende „gut-schlecht Modell“ war steter Begleiter der Ausschreibung und wird wohl in Zukunft fehlen.
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2010 hat die SBB bei der Firma Bombardier (Transportation) Switzerland AG 59 Doppelstock-Fernverkehrszüge bestellt. Es handelte sich dabei um die grösste je getätigte Bahnbeschaffung in der Schweiz. 12 Jahre später (Stand 12.21) sind erst 52 Fahrzeuge ausgeliefert und normal in Betrieb. Wie konnte diese ungeheure Verspätung entstehen? Als beteiligter, heute pensionierter Mitarbeiter der Lieferantin, der sich intensiv mit dem Beschaffungsprozess und seiner praktischen Umsetzung befasst hat, ist es mir ein Anliegen die Rolle dieses Prozesses bei der Beschaffung des FV Dosto zu hinterfragen und auf Schwächen und Mängel hinzuweisen. Es geht mir insbesondere darum, den Werkliefervertrag und seine prozesshemmenden und kostentreibenden Folgen zu analysieren, um daraus Empfehlungen für künftige Beschaffungen sämtlicher Bahnunternehmen in der Schweiz abzuleiten.
Rückblick auf die Meilensteine der Beschaffung:1
Am 12. Mai 2010 löst die SBB die grösste Rollmaterialbestellung ihrer Geschichte aus: der Auftrag für 59 Doppelstockzüge für den Fernverkehr, davon 50 Kompositionen à 200 Meter und 9 Kompositionen à 100 Meter Länge geht an die kanadische Bombardier Transportation (Switzerland) AG, deren Hauptsitz in Zürich ist und die über eine Produktionsstätte in Villeneuve (VD) verfügt. Das Auftragsvolumen beträgt rund 1,9 Milliarden Franken. Dem Entscheid ging ein aufwändiges Ausschreibungsverfahren voraus.
Im ersten Halbjahr 2011 fand eine Maquettenphase statt: Um den Innenausbau möglichst perfekt auf die Kundenbedürfnisse abzustimmen, baut Bombardier vorgängig ein 1:1-Holzmodell des FV_Dosto. Sämtliche benutzernahen Bereiche des neuen Zuges, insbesondere auch jene, die Personen mit Behinderung betreffen, wurden darin originalgetreu dargestellt und von den interessierten Kreisen inspiziert (inkl. der kontroversen Neigung der Eingangsrampe). Später muss sich Bombardier entgegnen lassen, dass es ein Fehler war, statt einen Prototyp zu bauen sich auf diese Maquette zu verlassen.
Im April 2012 melden Bombardier und SBB zwei Jahre Verzug, zum einen aufgrund von Problemen bei der Konstruktion des Wagenkastens und Verspätungen im Rahmen der aufwändigen Maquetten- Phase, zum anderen aufgrund eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts nach einer Beschwerde von einzelnen Behindertenverbänden. Diese forderten ein zusätzliches Behindertenabteil und einen Lift in den Speisewagen. Zwar gibt das Bundesgericht der SBB und damit Bombardier nach einem Weiterzug des Urteils Recht, für das Projekt kommt dieser Entscheid aber zu spät, weil konstruktive Weichen bereits anders gestellt worden sind.
Im November 2014 einigen sich Bombardier und SBB auf einen neuen Lieferplan. Die Züge sollen ab 2017 – und nicht wie vertraglich vereinbart ab 2014 – in den Einsatz kommen, netto, d.h. nach Abzug aller dritt- und nicht Bombardier-verschuldeter Verspätungen, rund ein weiteres Jahr später als geplant. Bis 2020 soll der Rückstand aufgeholt werden. Der neue Lieferplan ist Teil eines Gesamtpakets, das die offenen Punkte zur bisher entstandenen Verzögerung klärt. Im Rahmen der Vereinbarung akzeptiert die SBB von Bombardier drei zusätzliche, kostenlose Züge sowie Ersatzteile unter der Bedingung, dass die Qualität der Testzüge im Frühling 2015 die Anforderungen der SBB erfüllen.
Im Mai 2015 erfüllen die beiden ersten Testzüge die vereinbarten Anforderungen. Danach erfolgen Testfahrten in Velim/Tschechien und auf dem SBB-Netz.
Die Zulassung des Bundesamtes für Verkehr lässt auf sich warten. Erst im November 2017 erteilt das BAV eine befristete Betriebsbewilligung für das Schweizer Netz.
Start Einsatz mit Kunden, 26. Februar 2018: zwischen dem 26. Februar 2018 und dem 28. September 2018 waren Züge in einer ersten Phase als Interregio auf der Strecke Zürich HB–Bern und/oder der Strecke Zürich HB–Chur mit Fahrgästen unterwegs. Dieser Einsatz erfolgte im Rahmen eines «gelenkten Betriebs» in eingeschränktem Umfang und mit zusätzlichem Zugpersonal sowie ausserhalb der Verkehrsspitzen.
Aufnahme fahrplanmässiger Betrieb, 9. Dezember 2018: Die neuen Züge stehen auf der Linie des IR13/37 zwischen Chur, St. Gallen, Zürich und Basel im fahrplanmässigen Einsatz.
Fahrplanwechsel am 15.12.2019: nun werden mehr Fahrzeuge auf den Linien IR13/37, RE Zürich–Chur sowie auf dem IC3 eingesetzt.
Ausweitung des Einsatzes im fahrplanmässigen Betrieb: ab 6. Juli 2020 werden mehr Fahrzeuge auf der IC1 Linie zwischen St. Gallen und Genève-Aéroport eingesetzt. Stand heute (12.21) sind 52 der 62 Fahrzeuge übernommen.
Auswahl von Kritikpunkten:
- „Parkplatznot im Familienzug“ (CH Media 12.04.19): Eltern von Kieinkindern stehen vor einem Platzproblem, im Familienwagen von Bombardier fehlen Abstellplätze für Kinderwagen. Spannend an diesem Kritikpunkt ist folgendes: erstens wurde das Familienabteil als Maquette von Kindern und Eltern praktisch erprobt und von ihnen für gut befunden. Zweitens hat die SBB – nicht die Bombardier – die Firma Soultank AG in Zürich mit dem Layout des Familienabteils beauftragt. Drittens – und das hat System – kassiert die in diesem Punkt völlig
unschuldige Bombardier alle Prügel. Entsprechend wird nun bei jedem einzelnen Kritikpunkt die Gelegenheit ergriffen, dem Leser eine komplette „Mängelliste“ von (nicht unüblichen) Einführungsproblemen zu präsentieren.
- WAKO-Technologie – vergeblich erfunden (Blick 14.10.21): Die Vision der SBB besteht immer noch darin, die Zentren in der Schweiz in jeweils einer Stunde zu verbinden. Dieser Anforderung ist Bombardier mit der WAKO- (Wankkompensations-) Technologie nachgekommen. Im Modell ist diese Technologie in der Lage, die Fahrzeit von Bern nach Lausanne durch schnelleres Kurvenfahren von 66 auf 61 Minuten zu verkürzen. Nun zögert die SBB mit der Umsetzung, weil dadurch der – individuell empfundene Fahrkomfort – abnehmen könnte. Eine innovative Anforderung wurde erfüllt und trotzdem wird sie nicht implementiert. Auch dieser Vorwurf fällt Bombardier auf die Füsse.
- „Schüttelzug, ich bin nudelfertig“ (CH Media 14.09.19): ein SBB-Kondukteur klagt „über Hüften, die schmerzen“. „Die Knie unserer Mitarbeiter werden durch Erschütterungen arg in Mitleidenschaft gezogen“ verkündet ein Gewerkschaftsvertreter. Ein selbsternannter Experte macht Vergleichsmessungen mit seinem iPhone und stellt fest, dass der FV_Dosto doppelt so sehr schüttelt wie der IC2000 (Blick 4.10.21). Erstaunlich, dass sich eine überwältigende Mehrheit von zufriedenen Bahnkunden davon nicht beeindrucken lässt. Erstaunlich auch, dass entsprechende Schlagzeilen v.a. dann erscheinen, wenn andere Zuschläge anstehen. Ausschreibungen finden schon lange nicht mehr im engen Korsett des Vergaberechts statt. Zudem: die Kernfrage, ob es technisch überhaupt möglich ist, einen Doppelstöcker zu bauen, der durchgehend und in Kurven bis 200 km/h Spitze fahren kann und dabei immer optimalen Fahrkomfort bietet bleibt umstritten.
- „Komplexität des Zuges und des Prozederes ist den Beteiligten über den Kopf gewachsen“ (NZZ 1.5.19): Der Anforderungskatalog des FV_Dosto wuchs im Laufe der Entwicklung auf 2600 einzelne Punkte, wegen neuer Wünsche der SBB, wegen Verbesserungsvorschlägen von Lokführern, Kondukteuren, Reinigungsleuten, Businesskunden, Veloexperten und Bahnorganisationen, wegen Gerichtsentscheiden zur Behindertentauglichkeit und Auflagen des Bundesamtes für Verkehr. Nie vergessen darf man aber, dass die SBB als Beschaffungsstelle die Anforderungen als zwingende MUSS-Kriterien vorgibt, unabhängig davon, ob sie erfüllbar, in sich konsistent und widerspruchsfrei sind. Aber am Ende ist es die Lieferantin, die einen erzwungenen Vertrag, dessen Inhalt zumindest teilweise unmöglich ist erfüllen muss, koste es was es wolle.
- Zu wenig Swissness (Swissrail, 17.02.19): Der Verband der Bahnlieferanten Swissrail beklagt sich darüber, dass Schweizer Unterlieferanten zu kurz gekommen sind. So wurde z.B. Aluminium in China und nicht im Wallis bestellt. Auch wenn sich das Argument im Ergebnis als falsch herausstellt – Schweizer Unterlieferanten wurden von Bombardier immer zu einem „last call“ eingeladen – muss man sich fragen, ob diese Forderung der Planwirtschaft im Bahnsektor endgültig zum Durchbruch verhelfen würde. Die Liste der „in Frage kommenden Unterlieferanten“ ist bereits im Rahmen der Ausschreibung auf SBB-konforme Firmen beschränkt. Eine weitere Beschränkung auf CH-Unterlieferanten würde den letzten Rest von Wettbewerb im Keime ersticken.
- Aerosole – COVID-19 (Blick, 16.08.21): Nationalrat Martin Bäumle (GLP) – im Nebenamt Vertreter von Aerosol-Messgeräten – schürt Panik im Zusammenhang mit Aerosolen und behauptet die Luft sei schlecht im FV_Dosto. Er wird aber von einem Experten im gleichen Beitrag desavouiert, später auch von der schweizerischen Akkreditierungsstelle (SAS). Hauptsache, der Zug bleibt in den negativen Schlagzeilen, zumindest so lange als kompetitive Ausschreibungen laufen und es dem eigenen Business dient.
- Beschwerderunden mit Behindertenorganisationen 2012, 2016: hier wird auf ein späteres Briefing verwiesen, zumal die zweite Beschwerde in einzelnen Punkten noch hängig ist. Dieser Aspekt der Prozessstörung ist besonders heikel, hat man es hier doch mit einer sonst schon benachteiligten Gruppe von Menschen zu tun. Wie kann man nur Züge bauen, die Behinderten das Leben noch mehr erschweren? Man reibt sich allerdings die Augen und fragt sich, was die Maquette 2011 gebracht hat und v.a. welchen Teil der Verantwortung die SBB übernimmt, die mit den zuständigen Organisationen verhandelt hat. Aber eben: am Ende ist es die Bombardier, die einen behindertenuntauglichen oder Barriere-unfreien Zug gebaut hat.
- Und schliesslich: mittlerweile weist der FV_Dosto mit über 14000 km eine bessere Zuverlässigkeit (MDBI) auf als ihre Konkurrenten2, ist Spitzenreiter punkto Pünktlichkeit im DACH-Umfeld3, was allerdings nur halbherzig kommuniziert wird. Statt den Durchbruch zu feiern, folgt Hohn auf der Stelle4.
Fazit
Man kann es drehen und wenden, wie man will: das Bombi-Bashing hat einen Reputationsverlust eingeleitet, der nicht mehr zu korrigieren war. Die Wucht der sich verstärkenden – oft aber unfairen und widerlegten – Vorwürfe gegen Bombardier hat dazu geführt, dass diese Firma vom Markt verschwunden ist, zum Nachteil vieler engagierter Mitarbeiter. Erst mittelfristig werden sich die Folgen dieser Situation für die SBB artikulieren, spätestens dann, wenn sie dem Angebotsmonopol des verbleibenden Anbieters ausgesetzt ist. Mit J.K. Galbraith könnte man anfügen: die Zeiten von «countervailing power» werden anbrechen.
![](https://railoeb.ch/wp-content/uploads/2022/01/Bild8_Bombi_Bashing.jpeg)
Kann eine Firma derart an den Pranger gestellt werden und überleben?
Anschrift des Verfassers:
Bertrand Barbey, Dr.oec. HSG, lic.iur., RailöB GmbH, Managing Partner